Christoph POLASEK: Die Menschen verbinden damit einen Neuanfang. Also nach 1945, nach dem Krieg war natürlich vieles zerstört. Und ich glaube, 1955 und die Wiedererlangung der Souveränität markiert da wirklich einen Meilenstein, wo einfach im kollektiven Gedächtnis eingebrannt ist: So, und jetzt machen wir wieder alles von vorne und es wird wieder besser.
Rebekka VEIS: Ich denke, als 1955 Leopold Figl auf der Terrasse stand, dass es eine Art Symbolik war, dass jemand dort stand und sagte, dass Österreich endlich frei ist. Ich denke, die Menschen brauchten einfach jemanden, der für sie da vorne steht und sie sozusagen repräsentiert.
Christoph KONRATH: Österreich war ja auch schon davor vielsprachig. Das war aber alles andere als selbstverständlich, dass diese Menschen Rechte hatten. Und das hat eben erst der Staatsvertrag geschaffen.
VEIS: Wenn ich zum Beispiel in Ungarn bin, bin ich für die Ungarer die Österreicherin und in Tschechien bin ich für sie auch die Österreicherin, aber hier würden manche sagen, dass ich eher zum Beispiel eine Tschechin bin.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments
Tatjana LUKÁŠ: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von "Rund ums Parlament", dem Podcast des österreichischen Parlaments. Mein Name ist Tatjana Lukáš. Ich freue mich, dass ihr wieder mit dabei seid. Wir sind weiterhin im Thema Jubiläumsjahr 80, 70, 30. Und in dieser Folge sprechen wir über die 70, also den 70. Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrags. Was ist damals geschehen und wie wirkt es noch heute auf uns? Dazu habe ich mir mal wieder drei Experten und Expertinnen eingeladen. Da ist zum einen Christoph Konrath, den kennen unsere erfahrenen Hörerinnen und Hörer schon. Herzlich willkommen.
KONRATH: Hallo, schön, dass ich wieder da bin.
LUKÁŠ: Danke, dass Sie gekommen sind. Heute dürfen Sie sitzen, nicht mit uns spazieren gehen. Upgrade hier, oder?
KONRATH: Oh ja.
LUKÁŠ: Sehr gut. Sie sind jetzt zum zweiten Mal in diesem Podcast. Sie gehören zur Parlamentsdirektion des österreichischen Parlaments und sind zuständig für die parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit. Wir haben schon einmal ausführlich über Wahlen in Österreich gesprochen. Wie schwierig ist es bei so Weihnachtsfesten zu erklären in der Familie, was man genau arbeitet?
KONRATH: Überhaupt nicht, weil ich mache das jetzt schon länger. Die wissen alle, was ich tue und lesen überall mit oder hören mit.
LUKÁŠ: Sie sind also politisch sehr gebildet durch Ihren Job eigentlich.
KONRATH: Ja, ich glaube, Eltern tun das dann ganz gerne. Und manchmal finden es die älteren Kinder auch ganz praktisch für die Vorbereitung in der Schule.
LUKÁŠ: Ah, okay, verstehe. Wir verlinken auf jeden Fall die Folge zu den Wahlen in Österreich in den Shownotes und stellen auch gleich unsere anderen Gäste vor. Das sind Rebekka Veis und Christoph Polasek. Herzlich willkommen.
VEIS: Hallo.
POLASEK: Hallo, freut uns, dass wir da sein dürfen.
LUKÁŠ: Schön, dass ihr da seid. Ihr seid Schüler des Realgymnasiums der Komenský-Schule in Wien. Herzlich willkommen. Wo befindet sich die Komenský-Schule in Wien? Welcher Bezirk ist das?
POLASEK: Das ist der dritte Bezirk parallel zum Rennweg.
LUKÁŠ: Ah, okay. Und was ist das? Ist das eine AHS, ist das ein BAG, ist das eine HTL? Was haben wir da für eine Schulform?
POLASEK: Es ist ein Gymnasium und in der Unterstufe haben wir noch den Schulversuch Mittelschule, das heißt mit mehr Lehrern und diversen anderen Änderungen.
LUKÁŠ: Ah, okay. Und das ist jetzt aber neu, oder?
POLASEK: Gibt es schon seit einigen Jahren an unserer Schule.
LUKÁŠ: Fein. Liebe Rebekka, lieber Christoph, dürfte ich euch das Du-Wort anbieten und dass wir uns duzen vielleicht über diese Folge?
VEIS: Ja, natürlich.
POLASEK: Ja, sicher.
LUKÁŠ: Okay, dann duze ich ab jetzt. Rebekka, würdest du uns ganz kurz erklären, was an dem Schulverein Komenský so besonders ist? Denn es gibt ja auch einen Grund, warum ihr für die heutige Folge eingeladen seid. Den kann man vielleicht auch schon mal anteasern.
VEIS: Unsere Schule ist sehr ungewöhnlich, da wir eine Zweitsprache haben, also etwa Tschechisch und Slowakisch. Sehr viele Schüler oder die meisten Schülerinnen und Schüler an unserer Schule haben Eltern, die entweder aus Tschechien kommen oder aus der Slowakei und deswegen auf unsere Schule gehen, damit sie ihre Sprache weiterbilden können hier in Österreich.
LUKÁŠ: Und welche Wurzeln habt ihr jeweils? Rebekka, vielleicht magst du anfangen.
VEIS: Mein Vater ist aus Tschechien, also er ist in Prag geboren, ist aber teilweise in Österreich aufgewachsen und meine Mutter kommt aus Ungarn. Sie haben sich in Österreich kennengelernt und ich bin hier in Wien geboren.
LUKÁŠ: Und du, Christoph?
POLASEK: Bei mir ist es ähnlich. Mein Papa stammt aus Mähren, also das Bindeglied zwischen Böhmen und Schlesien, wenn man sich bisschen geografisch auskennt. Ich habe auch eine Zeit lang in Prag gelebt, im Kindergarten und eben jetzt auch in der Schule in Wien.
LUKÁŠ: Und seid ihr beide öfter in Prag?
VEIS: Also ich persönlich nicht. Ich war jetzt dreimal in Prag, aber ich besuche regelmäßig Ungarn, weil ich dort Familie habe. Ich tue auch meine Großeltern in Tschechien besuchen, aber nicht Prag.
POLASEK: Ich bin schon des Öfteren in Prag, wegen Freunden von früher, aber auch wegen der Oma, die noch in Prag lebt, die wir auch oft besuchen.
LUKÁŠ: Sehr schön. Dann danke ich euch für diese persönlichen kleinen Einblicke in eure familiäre Geschichte sozusagen, in eure Wurzeln und würde dann zum Staatsvertrag kommen. Herr Konrath, sind Sie bereit?
KONRATH: Ja, sicher.
LUKÁŠ: Sicher. Denn wer die letzten Folgen gehört hat, der weiß schon, was jetzt kommt. Und zwar haben die Schülerinnen und Schüler Fragen vorbereitet mit der Demokratiewerkstatt zu eben diesem Thema, 70 Jahre Staatsvertrag. Und der Herr Konrath ist quasi der Experte, den Sie auch so ein bisschen ausfratscheln dürfen, wie man in Österreich sagt.
KONRATH: Sehr gerne.
LUKÁŠ: Und vice versa, denn es gibt natürlich Lebensrealitäten auf der anderen Seite des Tisches, die vielleicht auch Sie interessieren, Herr Konrath. Dann würde ich Sie mal bitten, damit wir wissen, womit wir es heute überhaupt zu tun haben. Worüber sprechen wir? Was ist dieser Staatsvertrag und zwischen welchen Parteien wurde der überhaupt abgeschlossen?
KONRATH: Also wir reden heute über den "Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreichs". Aber der ist eigentlich in Österreich bekannt als der Staatsvertrag. Wenn irgendwer sagt, der Staatsvertrag, dann meinen die meisten Leute das, obwohl das Parlament hier, ich glaube, im Jahr oft zwischen 50 und 100 Abschlüsse von Staatsverträgen genehmigt. Staatsvertrag ist in Österreich einfach der Name für einen internationalen Vertrag. Aber das ist halt so ein Begriff, der hat sich hier sehr lange schon eingebürgert. Und der Staatsvertrag von Wien 1955, der ist so besonders, weil damit Österreich nach 10 Jahren Besatzung wieder ein freier und unabhängiger Staat geworden ist. Da haben wir auch schon die beiden Stichworte, nämlich internationaler Vertrag und Besatzung. International, weil hier die damalige UdSSR oder Sowjetunion – der größte Nachfolgestaat davon ist heute Russland –, dann England, Großbritannien, Frankreich und die USA Österreich 1945 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs besetzt hatten und weil sie diesen Vertrag dann mit Österreich abgeschlossen haben und erklärt haben, dass sie sich jetzt, wenn man es vereinfacht sagt, aus Österreich zurückziehen. Dass Österreich nicht mehr besetzt ist und dass Österreich ab sofort ein freier und unabhängiger Staat sein soll.
LUKÁŠ: Das waren ja recht schwierige Verhandlungen. Ich meine, die haben zehn Jahre lang gedauert. Zehn Jahre muss man sich nach so einem Kriegsgeschehen als Volk einmal gedulden, bis man da quasi in diese endgültige Phase der Freiheit entlassen wird. Warum hat denn das so lang gedauert? Man spricht ja da auch vom langen Weg zum Staatsvertrag.
KONRATH: Also erstens müssen wir, glaube ich, sagen, es hat zehn Jahre gedauert, bis Österreich frei war. Aber so richtig Verhandlungen begonnen über den Staatsvertrag haben erst 1947. 1946 hat man schon sehr viel davon geredet, dass es jetzt so einen Vertrag braucht und die Österreicher waren schon ein bisschen ungeduldig. Weil 1943 haben sich die Alliierten in Moskau getroffen und die Moskauer Deklaration verabschiedet im November und haben gesagt, dass Österreich wiedererrichtet werden soll. Und da hat man schon gewusst, hey, die haben 1943 gesagt, Österreich soll wieder frei werden. Was ist jetzt damit?
LUKÁŠ: 1943?
KONRATH: Ja.
LUKÁŠ: Also während der Krieg noch getobt hat, haben die schon über die Neuausrichtung Österreichs gesprochen?
KONRATH: Genau, 1943 in Moskau haben die USA, Großbritannien und die Sowjetunion schon darüber gesprochen, wie die Nachkriegsordnung aussehen soll. Also sie waren zu diesem Zeitpunkt schon recht sicher, dass sie Nazi-Deutschland besiegen werden. Und dort wurde Österreich zum einen, das ist jetzt wichtig, auch wenn wir weiter darüber reden, also Österreich wurde zum einen als der erste Staat genannt, der Adolf Hitler zum Opfer gefallen ist, besetzt wurde. Gleichzeitig wurde aber betont, dass Österreich, naja, nicht nur einfach Opfer war, sondern dass viele Österreicherinnen und Österreicher mitgetan haben und an der Seite von Nazi-Deutschland gekämpft haben. Dass es auch viele Verbrechen der Nazis hier gegeben hat und Verbrechen, bei denen Österreicherinnen und Österreichern mitgemacht haben. Und damit wurde dort gesagt, Österreich muss auch zeigen, dass es anders sein wird. Dass es sich verändern wird und dass es auch diese Verantwortung übernimmt. Das ist etwas ganz Wichtiges, was dort in dieser Moskauer Deklaration drinnen steht. Und dann war es so, dass Österreich ein befreiter Staat war. Aber man hat Österreich einen anderen Status gegeben, zum Beispiel weil wir auch hier jetzt zusammensitzen, als der Tschechoslowakei oder als Dänemark und anderen Staaten, die von Nazi-Deutschland besetzt waren. Und damit war Österreich ein bisschen mal nach hinten gerückt in der Reihenfolge, wie man verhandelt. 1947 haben diese Verhandlungen eben begonnen, wobei es wichtig ist, Österreich war kein Verhandlungspartner, sondern es wurde über Österreich verhandelt. Und man hat dann immer wieder das Gefühl gehabt, das ist jetzt schon zum Greifen nahe, es sind schwierige Fragen angesprochen worden, wir finden da eine Lösung. Und es hat gedauert und gedauert. Es hat vor allen Dingen auch deshalb gedauert, weil inzwischen viele andere Konflikte weitergegangen sind, weil sich das, was wir heute als der Kalte Krieg bezeichnen und die Teilung Europas abgezeichnet hat. In anderen Teilen der Welt, zum Beispiel in Korea, hat ein Krieg begonnen. Vor allen Dingen die USA und der Sowjetunion sind immer wieder auf die Bremse gestiegen und haben sich gedacht, vielleicht ist es nicht so schlecht, da mitten in Europa auch noch eine militärische Präsenz zu haben. Vielleicht sollten wir uns da nicht zu sehr beeilen. Und das war dann von der Befreiung 1945 bis 1955 schon eine recht lange Zeit.
LUKÁŠ: Ich würde da mal gleich das Wort an unsere jüngeren Gäste weitergeben. Habt ihr zu dem, was ihr jetzt gerade gehört habt, ist euch da eine Frage aufgepoppt?
POLASEK: Also ich würde Sie gerne fragen, Herr Konrath: Sie haben ja gerade darüber gesprochen, diese Teilschuld Österreichs auch an den ganzen Verbrechen wurde festgehalten, aber sie steht ja nicht im Staatsvertrag drinnen. Es gibt ja auch so eine Legende, dass Leopold Figl nach Russland gereist ist und diese Russen in, sagen wir, abendlichen Verhandlungen mit Alkohol, wo Alkohol im Spiel war, dazu gebracht hat, dies rauszustreichen. Glauben Sie, dass es für die junge Republik Österreich einen Unterschied gemacht hätte, wenn man das reingeschrieben hätte?
KONRATH: Also, wir wissen jetzt nicht genau, wie diese abendlichen Zusammentreffen abgelaufen sind. Aber was wir wissen, ist, dass die politischen Parteien in Österreich ein sehr großes Interesse daran hatten, dass im Staatsvertrag nichts von der Verantwortung Österreichs steht. Und um das besser zu verstehen, müssen wir nochmal in das Jahr 1945 zurückgehen, als sich nämlich Österreich für unabhängig erklärt hat. Das haben die drei Parteien, die ÖVP, die SPÖ und die KPÖ, die kommunistische Partei, gemacht – da war nur vom Opferstatus Österreichs die Rede. Und im Unterschied zu Deutschland vor allen Dingen, aber auch zu anderen Staaten in Europa, aber vor allen Dingen zu Deutschland, ist man in Österreich dann immer davon ausgegangen, okay, diese Nazi-Besetzung, diese sieben Jahre von 1938 bis 1945, das war eine Episode. Und eigentlich sind wir eh demokratisch geblieben. Man hat da sehr schnell auch diese fünf Jahre zwischen 1933 bis 1938, als es einen autoritären Staat in Österreich gab, das hat man da auch weggewischt. Und man hat das in Österreich schon als etwas Wichtiges gesehen, dass man nach den vielen Konflikten, die es vor 1938 auch politisch gab, ganz neu beginnt. Dass man das hinter sich lässt und wollte sich auch nicht zu sehr mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Es gibt ein anderes berühmtes Zitat aus jener Zeit, wo in den Ministerratsprotokollen vermerkt wurde zur Frage der Rückstellung insbesondere von jüdischem Vermögen. Da hat ein Minister gesagt, wir sind dafür, die Sache in die Länge zu ziehen. Und diese lange Zeit der Verhandlungen um den Staatsvertrag wurde dann in vielen politischen Reden auch als etwas betont, das ist ja eigentlich die große demokratische Leistung von Österreich. Diese lange Geduld, dass wir das durchhalten, dass wir das so verhandeln, dass wir den Wiederaufbau machen, dass wir jetzt demokratisch sind. Und jetzt haben wir das, etwas salopp formuliert, zehn Jahre gemacht, jetzt müsst ihr das nicht noch in den Staatsvertrag hineinschreiben. Und das war mehr oder weniger die Verhandlungsposition.
VEIS: Ich habe eine Frage wieder zum Staatsvertrag, also eine Frage ein bisschen beiseite: Glauben Sie, dass Menschen irgendwelche Vorstellungen haben vom Staatsvertrag, die jetzt nicht ganz stimmen oder beziehungsweise irgendwelche Mythen sind?
KONRATH: Ja, also sehr viele Menschen glauben zum Beispiel, dass im Staatsvertrag die Neutralität Österreichs drinnen steht. Die steht dort nicht drinnen. Da können wir vielleicht noch ein bisschen weiterreden. Ich glaube auch, dass gar nicht so viele Leute genau wissen, was im Staatsvertrag steht und es auch nie so wirklich gewusst haben, weil von Beginn an der Staatsvertrag vor allen Dingen mit Freiheit, Freiheit Österreichs aber auch Freiheit von, was wir vorhin angesprochen haben, Schuld verbunden wurde. Und das waren die Dinge, die man 1955 betont hat, die man bei den Staatsvertragsfeiern und vielen Reden betont hat. Und dieses Frei-Sein, nicht eine Diktatur werden, das ist im Zentrum gestanden und da sind die anderen Inhalte in den Hintergrund getreten. Wir dürfen ja auch eines nicht vergessen: Als 1955 der Staatsvertrag dann endlich unterzeichnet wurde, sah Europa schon wieder ganz anders aus als 1945. Da hat sich schon sehr klar abgezeichnet, wie in Polen, wie in der Tschechoslowakei, wie in Ungarn und so weiter, die politische Situation sich entwickelt hat. Da hat man auch schon erlebt gehabt, was es in der Realität bedeutete, von der Sowjetunion besetzt zu sein und bis 1953 auch unter der Herrschaft des Diktators Stalin zu stehen. 1953 ist Stalin gestorben und da hat man dann gehofft, es wird sich jetzt etwas verändern, das waren dann zwei Jahre bis zum Staatsvertrag. Aber es war noch immer nicht ganz klar, was sich da und wie sich das verändern wird. Du hast ja auch erzählt, dass deine Mutter aus Ungarn stammt. Und du weißt, dass jetzt ein Jahr nach dem Staatsvertragsabschluss in Ungarn das Jahr 1956 war, wo die ungarische Bevölkerung etwas verändern wollte und das sehr brutal niedergeschlagen wurde und schon ein Jahr nach dem Staatsvertrag zum Beispiel sehr viele Menschen aus Ungarn nach Österreich geflohen sind.
VEIS: Ja.
LUKÁŠ: Jetzt haben wir ja schon drüber gesprochen, ein bisschen haben wir schon reingelugt, was in diesem Staatsvertrag eigentlich steht. Und jetzt wollen wir nochmal sagen, am 15. Mai 1955 wurde der unterzeichnet, und zwar im Schloss Belvedere. Darüber haben wir auch schon in den vergangenen beiden Folgen gesprochen. Und, wie bereits anfangs erwähnt, unterschrieben haben ihn die alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Also Sowjetunion, USA, Großbritannien, Frankreich und Österreich durfte dann mitunterschreiben, musste mitunterschreiben tatsächlich. Der volle Titel dieses Dokuments lautet "Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich". Jetzt stellt sich die Frage, was genau sollte denn Österreich eigentlich wieder unabhängig und demokratisch machen? Worum ging es da?
KONRATH: Der Staatsvertrag, der ist ziemlich umfangreich, der besteht aus neun Teilen und einer Präambel. Die Präambel, das ist sowas wie ein Vorwort oder ein Vorspruch. Und in der Präambel steht eben das drinnen, was wir vorher noch gesprochen haben, dass Österreich 1938 mit Gewalt von Deutschland annektiert wurde. Aber die Mitverantwortung am Krieg und am Nationalsozialismus, die steht nicht mehr drinnen. Aber es wird auch gewürdigt, dass Österreich seit 1945 viel getan hat, um eine andere Gesellschaft zu werden. Und dann steht mal drinnen, dass Österreich in seinen Grenzen wiederhergestellt wird. Das ist gar nicht unwesentlich, weil es hätte ja auch anders ausschauen können, es hätte ja in Teilen irgendwo anders hinkommen können. Und das wurde ja auch zum Beispiel noch 1947 diskutiert, ob zum Beispiel gute Teile von Kärnten zu Jugoslawien kommen sollen. Und dann steht drinnen, dass Österreich nicht an Deutschland angeschlossen werden darf. Also es gibt ein Verbot, wieder Teil Deutschlands zu werden. Dann kommt als nächstes, dass Österreich die Menschenrechte anerkennt. Und da werden auch einige Menschenrechte genannt. Und dann gibt es den sehr berühmt gewordenen Artikel 7, der sichert die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, dem Burgenland und der Steiermark. Ihr gehört zur tschechischen Minderheit in Österreich, die steht nicht drinnen. Auch die ungarische Minderheit steht nicht drinnen. Die Roma und die Sinti stehen nicht drinnen. Und dann gibt es den Artikel 8, der Österreich dazu verpflichtet, dass immer freie und geheime Wahlen abgehalten werden. Und es steht im Staatsvertrag, dass die Regierung, gemeint sind eigentlich alle staatlichen Organe, demokratisch legitimiert sind. Und dann gibt es einige Artikel, die sich damit beschäftigen, dass in Österreich der Nationalsozialismus verboten ist und Österreich verpflichtet ist, Faschismus zu bekämpfen und die Demokratie immer aufrechtzuerhalten. Das sind also ganz wichtige und zentrale Punkte. Und dann gibt es sehr viel, das beschäftigt sich mit, welche Waffen darf ein österreichisches Heer haben, dass Kriegsgräber und Denkmäler bewahrt werden sollen. Deshalb steht zum Beispiel mitten in Wien am Schwarzenbergplatz das große Befreiungsdenkmal für die Rote Armee. Es ist auch genau geregelt, wie der Abzug der Alliierten laufen soll und wie mit all diesem Vermögen, das zunächst die Nationalsozialisten hatten und das dann auch auf die Besatzungsmächte übergegangen ist, wie mit dem umgegangen wird. Also das sind eigentlich die größten Teile, das sind auch die Teile, über die sehr lange verhandelt wurde. Weil es stand ja auch immer im Raum, dass Österreich zum Beispiel eine Wiedergutmachung leisten muss, also man nennt das Reparationen zahlen soll. Und das wurde auch weitgehend rausverhandelt. Damit konnte Österreich ab dem Jahr 1955, ab dem Herbst, wirklich neu durchstarten. Es war nicht belastet von Zahlungen an die Siegermächte.
LUKÁŠ: Wenn wir sie schon mal dahaben, sollen wir Rebekka und Christoph mal fragen, wie es sich eigentlich anfühlt, einer sogenannten Volksgruppe anzugehören?
VEIS: Also ich kann, glaube ich, für mich und Christoph sprechen, dass für uns beide es ganz normal ist, das ist einfach unser Alltag. Und ich würde jetzt auch nicht sagen, dass wir genau einer Volksgruppe angehören. Weil, ich denke, wenn man über Volksgruppen spricht, stellt man sich sehr oft die Tradition vor, dass man zum Beispiel als Tscheche irgendwelche… Ich weiß nicht, ob jetzt der Christoph was dazu sagen kann, aber ich denke, man stellt sich oft etwas vor.
POLASEK: Wenn ich vielleicht weiter dazu was sagen kann, ich glaube, es ist ein Teil des Zugehörigkeitsgefühls. Obwohl man natürlich in Österreich lebt und viele auch der Mitschüler und auch wir zum Teil, zur Hälfte zum Beispiel, Eltern haben aus Österreich, es ist einfach auch ein Teil der persönlichen Identität. Man identifiziert sich auch zum Teil mit gewissen Traditionen, man kennt verschiedene Ereignisse, man verfolgt Ereignisse in diesem Land. Zum Beispiel jetzt gerade ist die Eishockey-Weltmeisterschaft, da halte ich zum Beispiel zu Tschechien, weil die sind besser als Österreich. Das ist einfach ein Zugehörigkeitsgefühl.
VEIS: Ja, genau. Aber auf der anderen Seite, wenn ich zum Beispiel in Ungarn bin, bin ich für die Ungarer die Österreicherin und in Tschechien bin ich für sie auch die Österreicherin, aber hier […] würden manche sagen, dass ich eher zum Beispiel eine Tschechin bin. Also es ist immer so ein Mix, auch mit wem man sich unterhaltet. Also wenn ich jetzt mit einem Menschen rede, der nur österreichische Wurzeln hat, dann erkennt man schon diese Unterschiede. Aber wenn ich mit meinen ungarischen Cousins oder Cousinen rede, dann erkenne ich auch, dass sie anders aufgewachsen sind, dass sie Sachen kennen, die ich nicht kenne. Und ich glaube, wenn man diese Mehrsprachigkeit hat, hängt es immer davon ab, in welcher Situation man ist und mit wem man sich unterhaltet.
LUKÁŠ: Das ist wohl wahr. Und aus Bundesländersicht kann man nur sagen, man wird auch in Tirol als Wienerin bezeichnet, weil man in Wien lebt und in Wien als Tirolerin identifiziert. Und auch da gibt es sehr unterschiedliche Kulturhorizonte, in denen man aufwächst. Also ich glaube, wann immer ein Ortswechsel und ein kleiner Kulturwechsel stattfindet, bringt das eine Reibung mit sich oder eine Identifikation mit einem Paralleluniversum. Ihr habt gesagt, ihr betrachtet euch nicht ganz als Volksgruppe, aber doch ist es Teil der Identität, soweit ich das verstanden habe. Habt ihr irgendwelche Ideen, wie eure Rechte gefördert werden könnten?
POLASEK: Also natürlich zum Beispiel die Schulen, sie werden auch vom Staat unterstützt. Zum Beispiel der Schulverein hat Zuschüsse vom Bundeskanzleramt, das einfach ermöglicht, dass die Schulen betrieben werden, dass dieser zweisprachige Unterricht an unserer Schule stattfindet und man so eben die Sprache auch außerhalb Tschechiens erhält.
VEIS: Und zum Beispiel an unserer Schule kann man ja auch auf Tschechisch maturieren. Also man muss eigentlich Tschechisch maturieren. Und das ermöglicht auch Chancen, dass man dann, nachdem man hier in Österreich maturiert, dass man wieder nach Tschechien kann, damit man dort in Prag studieren kann mit der tschechischen Matura. Und das ist auch ermöglicht durch unseren Staat.
LUKÁŠ: Außerhalb von der Schule, fällt euch da noch was ein?
VEIS: Ich denke, hier in Wien habe ich das Gefühl, sind die meisten Menschen sehr offen, was andere Sprachen angeht. Weil es hier ganz viele Menschen gibt mit anderen Kulturen und es gibt hier auch ganz viele Volksgruppen. Also man hört immer wieder Menschen tschechisch reden oder russisch oder ungarisch oder es gibt auch Türken und ganz viele Arten von Sprachen. Natürlich sind nicht immer alle offen, was Sprachen angeht. Also wenn wir zum Beispiel Tschechisch in der Straßenbahn reden, dann gibt es ab und zu Menschen, die schauen. Aber ich habe das Gefühl, die meisten Menschen sind hier wirklich sehr offen, was andere Kulturen und Sprachen angeht.
LUKÁŠ: Und Wien ist ja wirklich sehr gemischt.
VEIS: Ja, genau.
LUKÁŠ: Das ist sehr schwierig.
VEIS: Also ich würde sogar sagen, es gibt hier kaum wirklich Österreicher, die wirklich nur Österreicher sind. Ich habe auch eine Freundin, in ihrem Sportclub, die meisten Leute, die dort sporteln, sind eher wirklich gemischt. Also Kroaten und Slowenen, kaum Österreicher.
LUKÁŠ: Genau. Aber im Endeffekt, ihr seid jetzt natürlich schon Österreicher, eure Wurzeln sind halt woanders. Ihr seid Österreicher und Österreicherin.
VEIS: Ja, das stimmt.
POLASEK: Genau, also eigentlich die meisten noch in der Community haben sicher tschechische oder slowakische Wurzeln, aber die meisten haben, zum Beispiel auch in meinem Fall, zur Hälfte einfach österreichische Wurzeln. Man hat ein Zugehörigkeitsgefühl zu beiden Seiten. Jemand fühlt sich zum Beispiel 70% Österreicher, 30% Tscheche, jemand hat 50-50, also es kommt ganz auf die einzelne Person an.
KONRATH: Das ist total wichtig, was ihr hier sagt. Es zeigt ja auch, was sich in den 70 Jahren seit dem Staatsvertrag verändert hat. Weil Österreich war ja auch schon davor vielsprachig. Es gab gerade in Wien schon lange Tschechen und Slowaken. Im Burgenland, das ist schon immer ganz gemischt. Da gibt es kroatische Ortschaften seit über 500 Jahren. Ungarisch wird dort schon seit es Ungarn gibt gesprochen. Und ähnlich ist es in Kärnten. Das war aber alles andere als selbstverständlich, dass diese Menschen, die jetzt schon seit Jahrhunderten teilweise, oder im Fall der Tschechen und der Slowaken damals circa 100 Jahre, etwas mehr als 100 Jahre, hier lebten, dass die Rechte hatten. Das war überhaupt nicht klar, dass sie in die Schule in ihrer Sprache gehen können, dass die Aufschriften bei den Ortsnamen in Kroatisch oder Slowenisch waren oder dass man auch auf das Gemeindeamt oder auf ein Gericht gehen konnte und dort die Sprache verwenden. Das hat eben erst der Staatsvertrag geschaffen, dass das aber auch nur für die Kroaten und die Slowenen dort geregelt wurde. Das hatte mit der weltpolitischen Situation zu tun und mit der Rolle Jugoslawiens. Jugoslawien gibt es heute nicht mehr. Heute die Nachfolgestaaten sind Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, der Kosovo. Hier im Staatsvertrag hat man das verankert und es hat aber Jahrzehnte in Österreich gedauert, bis alle diese Verpflichtungen umgesetzt wurden. Also die zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten sind erst zwischen 2000 und 2010 alle aufgestellt worden. Dass es ein mehrsprachiges Gymnasium im Burgenland gibt, wo Kroatisch und Ungarisch neben Deutsch die Unterrichtssprache ist, das ist erst in den 1990er-Jahren verwirklicht worden. Das slowenische Gymnasium in Kärnten schon doch etwas früher, aber auch dort hat es viele Diskussionen gegeben, über wie weit diese Minderheitenrechte reichen. Und wenn es nicht diesen Staatsvertrag gegeben hätte und da auch diese internationale Zusicherung, dass dem so ist, wäre vieles nicht passiert. Und es wäre auch, und das ist auch wichtig, nicht passiert, dass man auch die anderen Minderheiten in Österreich anerkennt und sie als Volksgruppen anerkennt. Also die Tschechen und Slowaken, die schon sehr lange hier leben, auch die Roma und die Sinti – das wäre alles ohne den Staatsvertrag nicht möglich gewesen.
VEIS: Dazu wollte ich noch sagen, wegen den Schulen, die ungarischen Schulen in Österreich: Ich habe einmal ein Interview geführt mit einer 80-jährigen Frau, circa, die über ihre Erfahrung erzählt hat, wie sie wegen dem Kommunismus mit ihren Eltern und mit ihren zwei Brüdern nach Österreich geflohen ist. Und die haben in, ich glaube, Innsbruck dann eine ungarisch-österreichische Schule gebaut oder ermöglicht, wo es ganz viele ungarische Schüler gab, die dorthin geflüchtet sind. Ohne den Staatsvertrag könnte das auch nicht ganz funktionieren.
KONRATH: Die Ungarn stehen aber nicht im Staatsvertrag drinnen.
VEIS: Nein, das nicht.
KONRATH: Was da funktionieren konnte, ist, dass diese Erfahrung des Staatsvertrags, jetzt frei zu sein und so etwas zu haben, sicher auch immer wieder eine Motivation war in Österreich, dann den Nachbarstaaten zu helfen. Aber man darf nicht vergessen, diese Angst vor dem Kommunismus war auch etwas, das sehr groß und stark war. Aber dennoch, 1956 hat Österreich sehr viele ungarische Flüchtlinge für einige Zeit aufgenommen. Viele sind weitergezogen, etliche sind aber auch geblieben. Und 1968 war dann eine ähnliche Situation, als viele Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei kamen.
LUKÁŠ: Ich würde vorschlagen, dass wir uns zum Thema Neutralität bewegen, die ja auch für den Abschluss des Vertrags entscheidend war. Und bevor wir mit dem Herrn Konrath in die Geschichte dieses Abschlusses dieses Vertrags reingehen, würde ich gerne euch beide noch fragen: Wie hängt denn das für euch zusammen, der Staatsvertrag und die Neutralität?
POLASEK: Ich würde sagen, beide sind eigentlich identitätsstiftende Merkmale von Österreich oder der Zweiten Republik. Also die meisten Menschen und wir als kollektive Gesellschaft in Österreich haben das so verknüpft miteinander. Also der Anfang der Zweiten Republik, die Neutralität gehört da dazu. Obwohl sie eigentlich nicht drinnen steht, glauben viele, dass es so ist. Auch wenn manchmal die Debatte in letzter Zeit über dir Neutralität geführt wird, ob sie noch zeitgemäß ist: die Mehrheit, Umfragen ergeben ja, dass es immer so zwischen zwei Dritteln und 70 Prozent sind, die sich doch dafür aussprechen, weil es eigentlich tief verankert in diesem kollektiven Gedächtnis ist, dass das der Beginn war der Zweiten Republik und dass das auch vielleicht Österreich weitergebracht hat damals.
VEIS: Also ich stimme dem Christoph voll und ganz zu. Ich denke, wie er schon gesagt hat, ich habe auch damals noch gedacht, dass Neutralität im Staatsvertrag steht, dass wir neutral sind. Aber ich denke, es musste nicht unbedingt im Staatsvertrag stehen, weil ich persönlich auch glaube, dass wir in Österreich sehr neutral sind, auch wegen unserer Demokratie und hauptsächlich wegen dem Militär, meiner Meinung nach.
LUKÁŠ: Danke für eure Einschätzung und wir haben schon vorher aufgelöst, aber hier kommt ja nochmal der Schockmoment: Tatsächlich steht die Neutralität nicht im Staatsvertrag. Genau. Am 7. Juni 1955, also nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags, forderte der Nationalrat nämlich die Regierung auf, ein Neutralitätsgesetz zu formulieren. Also war das eine Entscheidung, die Österreich selbst getroffen hat. Lieber Herr Konrath, warum das?
KONRATH: Die Neutralität war letzten Endes eine Bedingung dafür, dass dieser Staatsvertrag abgeschlossen wurde. Aber Neutralität, sich neutral erklären, hat man so verstanden, das muss dieser Staat selbst tun. Und damit hat Österreich, nachdem es den Abschluss des Staatsvertrags genehmigt hat, auch gleich zum Ausdruck gebracht, wir werden jetzt dieses Neutralitätsgesetz vorbereiten. Und am 25. Oktober 1955 war dann die Besatzungszeit rechtlich zu Ende. Das hat sich aus den Fristen nach dem Staatsvertrag ergeben. Und am 26. Oktober hat Österreich dann das Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität beschlossen und sich für neutral erklärt.
LUKÁŠ: Und die Debatten im Parlament – das Parlament war ja frisch in Wirklichkeit –, hat es da kontroverse Debatten darüber gegeben, über Neutralität und andere Verpflichtungen, die Österreich mit diesem Staatsvertrag eingegangen ist?
KONRATH: Das Parlament hat in der ganzen Zeit seit 1945 eigentlich die große Rolle gespielt, dass es die Bundesregierung in all den Verhandlungen unterstützt hat. Dass man hier im Parlament Einigkeit gezeigt hat. Das war alles andere als selbstverständlich, weil zunächst war auch noch die Kommunistische Partei Teil des Nationalrats und man wusste nicht so genau, wie werden die reagieren? Bringen die da jetzt so einen Keil hinein? Und man darf ja nicht vergessen, wenn etwas so lange dauert, dann werden auch schon viele Menschen unzufrieden. Es gab einen Film damals in Österreich, der sehr populär war, der hieß "1. April 2000". Und da war die 500. Verhandlungsrunde und irgendein UFO landet am Heldenplatz und Österreich ist immer noch nicht frei.
LUKÁŠ: Wirklich?
KONRATH: Also die große Rolle der Politiker, in erster Linie waren es ja Männer damals, war schon auch die Menschen bei Laune zu halten. Dass man nicht jetzt irgendwie alles hinschmeißt und sagt, es wird alles nichts und ihr bringt nichts zusammen, sondern sagt, das dauert. Und ich finde, wenn man sich das anschaut, wie heute oft alles sehr kurzfristig wird, wie es sich so schnell verändert, ist das schon auch eine große Leistung der Mitglieder des Nationalrats und des Bundesrats, die Geduld und auch die Zuversicht aufrechtzuerhalten. Und es gab hier eben auch in den Debatten, die geführt wurden, die man immer wieder geführt hat, weil man berichtet hat über den Verlauf der Verhandlungen, weil man die Regierung bestärkt hat und unterstützt hat, da war es wichtig, diese Einigkeit zum Ausdruck zu bringen. Aber auch in den Debatten zu sagen, das dauert jetzt schon lang und jetzt muss doch bald was werden und wir setzen alles dran, dass es bald etwas wird, damit man auch da die Unterstützung sichert. Und als es dann eben 1955 war, da wurden auch dann alle Beschlüsse einstimmig gefasst, auch eben das Neutralitätsgesetz. Aber ich glaube, man muss die wichtige Rolle wirklich darin sehen, die Abgeordneten haben es geschafft, über so eine lange Zeit wirklich eine gute Zusammenarbeit aufrechtzuhalten und zu sagen, wir werden das gemeinsam schaffen und wir fangen da jetzt nicht zum Streiten an darüber.
LUKÁŠ: Ja, da muss man sich ein bisschen zusammenreißen. Bevor wir jetzt weitergehen in unserem Thema, kommt die Rubrik "Drei Fragen". Sie haben sie schon einmal beantwortet, Herr Konrath. Wir werden schauen, ob die Antworten diesmal dieselben sind. Das wird da auch haargenau abgeglichen. Ich beginne mal bei der Rebekka. Liebe Rebekka, diese Fragen stehen in keinem Zusammenhang mit unserem heutigen Thema, sondern sind persönliche Ansichten.
VEIS: Okay.
LUKÁŠ: Also, was ist dir lieber, der Frühling oder der Herbst?
VEIS: Ich glaube, ich würde wahrscheinlich Herbst sagen, weil ich immer die roten Blätter so schön finde, die runterfallen. Aber auf der anderen Seite ist der Frühling auch sehr schön, weil man es erkennt, dass es zum Sommer führt. Den Sommer mag ich eigentlich am meisten, aber in diesem Fall würde ich jetzt den Herbst nehmen.
LUKÁŠ: Sehr gut. Kompromiss oder beste Lösung?
VEIS: Ich würde Kompromiss sagen. Ich denke, wenn man jetzt zwei Seiten hat, die eine komplett andere Meinung haben, dann kann man nicht wirklich zu der besten Lösung kommen, ohne einen Kompromiss. Also ohne Kompromiss gibt es keine Lösung.
LUKÁŠ: Und wo fängt für dich Demokratie an?
VEIS: Ich denke, wenn Menschen ihre Meinung äußern können oder eine eigene politische Sichtweise haben können, ohne dass sie Angst haben müssen, zum Beispiel rausgetrieben zu werden aus ihrem Staat. Das bedeutet aber nicht, dass man jetzt die eigene Meinung immer äußern sollte, was jetzt zum Beispiel den Free Speech angeht in Amerika. Also das finde ich nicht, dass das Demokratie ist. Ich denke Demokratie hat auch irgendwelche Grenzen, was Meinung angeht.
LUKÁŠ: Danke. So Christoph, Frühling oder Herbst?
POLASEK: Eindeutig der Frühling. Ich bin ein Sommerkind und im Frühling ist es schon warm, aber noch nicht brennend heiß und alles fängt an zu blühen.
LUKÁŠ: Ja, es ist herrlich. Kompromiss oder beste Lösung?
POLASEK: Ich würde mich für den Kompromiss entscheiden. Eine beste Lösung kann es objektiv gar nicht geben. Es gehört auch einfach zu einer freien Gesellschaft dazu, dass man einen Kompromiss findet und nicht einfach nur eine objektiv berechnete oder herausgefundene Lösung.
LUKÁŠ: Und wo fängt für dich Demokratie an?
POLASEK: Demokratie fängt für mich da an, wo Menschen aus freien Stücken an der Gesellschaft mitbestimmen können.
LUKÁŠ: Danke dir. So und jetzt kommt der Herr Konrath dran, jetzt wollen wir ganz genau schauen, ob sich da was bewegt hat seit dem letzten Mal. Frühling oder Herbst, lieber Herr Konrath?
KONRATH: Frühling.
LUKÁŠ: Frühling. Kompromiss oder beste Lösung?
KONRATH: Der Kompromiss. Ich weiß nicht, ob es nämlich immer eine beste Lösung geben kann. Es gibt oft viele Lösungen.
LUKÁŠ: Und gibt es auch viele beste Lösungen? Geht das mit dem Superlativ?
KONRATH: Das ist…
LUKÁŠ: Eine philosophische Frage.
KONRATH: Eine wirklich schwierige Frage.
LUKÁŠ: Und wo fängt für Sie Demokratie an?
KONRATH: Für mich fängt Demokratie im Alltag an, wo wir einander in demokratischer Weise begegnen. Also als freie und gleiche Menschen, Menschen, die ihren Lebensentwurf haben, aber auch in einer fairen und guten Weise zusammentun müssen, indem man einander respektiert und zuhört und indem jede und jeder ohne Angst leben kann.
LUKÁŠ: Sehr gut, vielen Dank. Dann würde ich sagen, wir gehen zum letzten Teil unseres Gesprächs, und zwar, der Staatsvertrag heute ist unser Überthema. Wir kennen ja alle das Bild vom damaligen Außenminister Leopold Figl, von dem wir heute schon gehört haben, wie er auf dem Balkon des Belvedere steht und den Staatsvertrag präsentiert. Und damit verbinden wir oder sehr viele Menschen seine Worte, Österreich ist frei. Wir haben in der letzten Folge schon einmal darüber gesprochen, dass viele Österreicherinnen und Österreicher genau diesen Moment eigentlich als Befreiung Österreichs wahrnehmen und nicht das Ende des Krieges oder der Diktatur 1945. Liebe Rebekka, lieber Christoph, warum glaubt ihr, dass das so ist? Womit hat das zu tun?
POLASEK: Ich glaube, die Menschen verbinden damit einen Neuanfang. Also nach 1945, nach dem Krieg war natürlich vieles zerstört. Die Menschen hatten nicht viel. Es ging den Menschen nicht gut. Und ich glaube, 1955 und die Wiedererlangung der Souveränität markiert da wirklich einen Meilenstein, wo einfach im kollektiven Gedächtnis eingebrannt ist: So, und jetzt machen wir wieder alles von vorne und es wird wieder besser.
VEIS: Ich denke, als 1955 Leopold Figl auf der Terrasse stand, dass es eine Art Symbolik war, dass jemand dort stand und sagte, dass Österreich endlich frei ist, obwohl das nicht ganz genau passiert ist. Er hat es ja nicht geschrien, das war eigentlich dahinter. Aber ich denke, die Menschen brauchten einfach jemanden, der für sie da vorne steht und sie sozusagen repräsentiert und ich denke, das umfasst das Ganze.
LUKÁŠ: Danke. Herr Konrath, was sagen Sie dazu? Stimmen Sie den beiden zu?
KONRATH: Ich sehe persönlich diese Szene am Balkon ein bisschen differenzierter. Es ist natürlich ein großes Gegenbild zum Heldenplatz 1938, wo auch jemand am Balkon stand und den Anschluss Österreichs verkündete. Und das macht man jetzt in Belvedere, auch an einem Ort, der nicht mit den Habsburgern assoziiert ist. Auch wieder etwas ganz Neues, wo man ja ganz stark schon in dieser Zeit darauf hinarbeitet: Was ist denn dieses Österreich jetzt? 1918, als der Weltkrieg zu Ende war und die Republik Österreich ausgerufen wurde, hat man ja gleich quasi im nächsten Moment gesagt, und wir sind jetzt aber schon ein Teil Deutschlands. Und jetzt sagt man, wir sind wirklich Österreich. Also das ist dieser große Moment, den man dann auch ganz lange nachspürt. Weil sich auch in den 1960er-Jahren, 1970er-Jahren noch immer nicht alle Leute so sicher sind, was ist denn dieses Österreich jetzt? Und das wird also zu diesem Bild für dieses neue Österreich und auch das, was macht Österreich aus. Wer sind wir Österreicher? Und das ist ein ganz starkes Bild. Man verwendet für sowas auch den Begriff ein "Gedächtnisort". Sowohl der reale Ort, das Belvedere, als auch das, was dort passiert ist. Und ich glaube auch, das ist, das habt ihr auch schon jetzt gesagt, das ist einfach auch dieser Moment, wo das lange Warten zu Ende ist. Auch, wenn die Besatzung in Österreich in dieser Zeit schon, kann man sagen, recht locker war. Es war also nicht mehr so wie in Jahren zuvor, dass man sich fürchten musste, einfach auf der Straße verhaftet zu werden und in ein sowjetisches Lager gebracht zu werden. Aber trotzdem ist es, wir bestimmen jetzt wieder über uns und es ist auch, wir haben etwas geschafft. Und es ist auch, und das haben wir ja auch schon angesprochen heute, es sagt auch dieses, Österreich ist auch frei von einer Schuld jetzt. Und so wurde das ja dann auch transportiert. Und viele Bemühungen, wo es darum gegangen ist, zu entnazifizieren, ehemalige Nazis gerichtlich zu verfolgen, sich auch mit dieser Rückgabe von jüdischem Vermögen zu beschäftigen, das hört dann ab dem Zeitpunkt alles langsam auf. Und da strengt man sich dann nicht mehr so sehr an. Da weiß man, jetzt haben wir doch auch das geschafft. Wir wollen was Neues machen. Wir wollen das Alte auch hinter uns lassen. Und das ist halt auch ein Moment, der hier zum Ausdruck kommt. Und es ist ja auch interessant, diese Darstellung des Staatsvertrags, das hört ja erst dann in den 1980er-Jahren auf. Wenn man dann sieht, okay, dieser Ost-West-Konflikt verändert sich jetzt, wenn Österreich dann beschließt Teil der Europäischen Union zu werden und so, dann tritt das auch alles in den Hintergrund. Aber bis dahin ist das etwas, das ganz stark prägt und man darf aber bei aller Kritik nicht außer Acht lassen, dass es halt auch dieser zentrale Moment war, mit dem sich sehr viele Menschen in Österreich identifizieren konnten und dass man das auch genutzt hat, um so ein gemeinsames Österreichbewusstsein und Staatsbewusstsein aufzubauen.
LUKÁŠ: Ja, das hat gut funktioniert. Auch in den nachfolgenden Generationen hat dieses Bild sehr gut funktioniert. Und dieser Satz hat uns alle mitgeprägt. Mich interessiert jetzt schon noch, weil wir uns ja dem Ende zuneigen, welche Bedeutung der Staatsvertrag heute noch hat, wie der weiterwirkt.8 Also ganz konkret würde ich eigentlich gerne wissen, welche grundlegenden Dinge legt der Staatsvertrag für uns heute noch als unveränderlich fest? Da können wir gar nichts dagegen tun. Und was verhindert er? Weil es wurden ja sicher so Schutzmechanismen eingebaut nach dieser schrecklichen Diktatur.
KONRATH: Viele Bestimmungen des Staatsvertrags sind später Teil der Bundesverfassung geworden. Und das sind ja auch so ganz typische Inhalte für eine Verfassung: Die Staatsform, die Demokratie, freie Wahlen, die Sicherung der Menschenrechte. Und was aber, glaube ich, bis heute ganz zentral ist vom Staatsvertrag, ist, erstens, er hat eine sehr starke Definition von Demokratie, gemeinsam mit den Menschenrechten. Und das ist wichtig, das ist auch das, was ihr vorhin angesprochen habt, dass Demokratie ja nicht heißt, dass man unbeschränkt tun und lassen kann, was man möchte. Das Zweite, er sichert die Rechte der Minderheiten, auch wenn dort nur die kroatische und die slowenische Minderheit drinnen stehen, ist das mittlerweile doch erweitert worden. Und er sichert das, was man eine wehrhafte Demokratie nennt, weil er Österreich darauf verpflichtet, den Faschismus und den Nationalsozialismus zu bekämpfen. Da gab es auch schon das erste Verfassungsgesetz nach 1945, das neu war, das Verbotsgesetz, wo das drinsteht. Und das wird im Staatsvertrag bekräftigt und es ist nicht nur Teil des Verfassungsrechts, sondern es ist auch international abgesichert. Und das sind schon sehr wichtige Punkte bis heute. Und vielleicht sogar die Punkte, wo man so diese Grundlagen von Demokratie – Vielfalt, Menschenrechte und dass wir etwas tun müssen, um Demokratie zu erhalten –, ganz einfach vermitteln kann, auch in einer Sprache, die sehr zugänglich ist.
LUKÁŠ: Habt ihr vielleicht noch eine Frage zu dem, was der Herr Konrath jetzt abschließend gesagt hat?
POLASEK: Mich würde interessieren, Sie haben ja gesagt, es ist eine wehrhafte Demokratie festgelegt durch den Staatsvertrag. Wieso hat man das insbesondere in den Staatsvertrag reingeschrieben noch einmal zusätzlich? Also zum Beispiel die Neutralität hat man Österreich regeln lassen alleine. Warum hat man das dann doch lieber im Staatsvertrag festgehalten?
KONRATH: Das ist sicher auch einer der wichtigsten Punkte, die man aus dieser Moskauer Deklaration, die noch im Krieg beschlossen wurde, mitgenommen hat. Und das ist auch das, was man insgesamt wohl aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs als Antwort mitgenommen hat: Wir können uns nicht darauf verlassen, dass Demokratie oder Menschenrechte einfach so bleiben und erhalten werden, sondern wir müssen da auch etwas klar dagegen tun. Und das geht auf eine Debatte zurück, die uns vielleicht auch zu eurer Schule zurückführt. Denn in der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, wo viele Demokratien entstanden sind, hat man gesagt, okay, Demokratie ist gut und schauen wir mal was rauskommt. Und wenn sich jetzt eine Mehrheit dafür entscheidet, dass Demokratie abgeschafft wird, dann ist das auch zu akzeptieren. Weil überall in all den europäischen Staaten haben sich Parteien gebildet, die Demokratie abgelehnt haben. Einer der ersten Staaten, die gesagt haben, nein, so ist das nicht, war die Tschechoslowakei. Und die hatte schon früh in den 30er-Jahren das Verbot von radikalen Parteien beschlossen und hat gesagt, also da gibt es jetzt diese Grenzen. Und dann hat sich weltweit eigentlich so eine Diskussion darüber entwickelt, was sind denn die Grenzen, kann die Demokratie und soll sie sich selber schützen oder muss man in einer Demokratie einfach akzeptieren, was kommt? Und da wurden die Gesetze in der Tschechoslowakei zu einem Vorbild, das weltweit diskutiert wurde, zum Beispiel auch in den USA, weil es dort solche Gesetze nicht gab.
LUKÁŠ: Haben wir hier, jetzt wo wir zu eurer Schule nochmal zurückgekommen sind und eigentlich zur ehemaligen Tschechoslowakei, einen Full-Circle-Moment! Danke, Herr Konrath, dass Sie den Kreis geschlossen haben, hier zum Ende dieser Episode. Ich möchte mich bei euch beiden bedanken, Rebekka, Christoph, dass ihr euch die Zeit genommen habt, dass ihr euch so gut vorbereitet habt und mit so interessanten Fragen und so eloquent dieses Gespräch bereichert habt. Vielen Dank.
VEIS: Dankeschön.
POLASEK: Danke!
LUKÁŠ: Und das war es dieses Mal für "Rund ums Parlament". Ich hoffe, euch hat die Folge gefallen und es war informativ. Wenn ja, dann gebt uns gerne eine Bewertung, das würde uns sehr, sehr freuen. Und abonniert uns auch, wenn ihr das nicht sowieso schon getan habt. Dann verpasst ihr unser nächstes spannendes Gespräch nicht – ebenfalls mit Schülerinnen und Schülern und dem Experten Paul Schmidt, dem Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Und dann geht es um den EU-Beitritt im Jahr 1995. Ganz herzlich möchte ich mich an dieser Stelle unbedingt nochmal bei der Demokratiewerkstatt des Parlaments bedanken, mit denen wir gemeinsam die drei Folgen zu den drei Jubiläen gestalten haben dürfen. Die Website zur Demokratiewerkstatt verlinken wir natürlich für euch in den Shownotes. Dort findet ihr ganz viele Informationen rund um unsere Demokratie, aber auch zu den kostenlosen Workshops für Jugendliche, Kinder, für Schulen. Unbedingt reinschauen, das lohnt sich. Falls ihr Fragen, Kritik oder Anregungen zum Podcast selbst habt, dann schreibt uns gerne eine E-Mail an podcast@parlament.gv.at und schaut auch mal auf unserer Website oder den Social-Media-Kanälen des österreichischen Parlaments vorbei. Also, ich freue mich auf die nächste Folge mit euch. In diesem Sinne vielen Dank fürs Zuhören. Mein Name ist Tatjana Lukáš. Wir hören uns.
Jingle: Rund ums Parlament. Der Podcast des österreichischen Parlaments.