Fachinfos - Parlamentsforschung 23.10.2024

Das erste "Forschungsjahr im Parlament" ist abgeschlossen

Durch das "Forschungsjahr im Parlament" wird jährlich ein Werkvertrag über eine wissenschaftliche Forschungsarbeit ausgelobt und von einem wissenschaftlichen Beirat ausgewählt. Es soll eine kritische Auseinandersetzung mit parlamentarischen Wissensressourcen und deren Weiterentwicklung ermöglichen. Der Abschlussbericht des ersten "Forschungsjahr im Parlament" liegt nun vor:

Abschlussbericht FiP 2023: Bianca Winkler / PDF, 318 KB

Das Forschungsprojekt

Von 1. September 2023 bis 31. August 2024 untersuchte die Historikerin Bianca Winkler aus einer sozialanthropologischen Perspektive, wie der Begriff "Wissenschaft" in den Nationalratsdebatten der Jahre 2020 bis 2022 verwendet wurde. Dabei analysierte sie nicht nur, wie Mandatar:innen darüber sprechen, sondern untersuchte auch, ob es Themen gibt, in deren Zusammenhang sich Abgeordnete besonders häufig auf Wissenschaft beziehen. Dieser Fragestellung näherte sich die Forscherin durch eine qualitative Auswertung stenographischer Protokolle der Nationalratsdebatten. Bei der Umsetzung unterstützten sie Expert:innen der Parlamentsdirektion.

Da aus dem Suchbegriff "Wissenschaft" eine unüberschaubare Datenmenge resultiert, koppelte die Forscherin unter anderem die Suchbegriffe "Evidenz", "Studie" und "Wissenschaftsskepsis" mit dem Begriff "Wissenschaft". Dabei erfolgte die Analyse anhand einer zufälligen, stichprobenartigen Datenauswahl um die Ergebnisse weiter einzugrenzen. Ergänzend führte die Forscherin Interviewgespräche mit den Wissenschaftssprecher:innen von vier Nationalratsklubs.

Gewonnene Erkenntnisse

  • Bianca Winkler hält in ihrem Projektbericht fest, dass der Gebrauch der Suchbegriffe stets im Kontext der jeweiligen Debatten betrachtet werden muss. Worthäufigkeiten können zwar eine Aussagekraft über die Verwendung bestimmter Begriffe haben, der jeweilige Verwendungskontext ist jedoch notwendig, um die Bedeutung gewisser Wörter interpretieren zu können. Für die Festlegung geeigneter Suchbegriffe stellten sich im Vorfeld der Datenauswertung geführte Gespräche mit den Mitarbeiter:innen der Parlamentsdirektion daher als wegweisend heraus.
  • Anhand der genannten Wissenschaftsbegriffe zeigte sich eine Vielfalt parlamentarischer Positionen zum Thema Wissenschaft. Exemplarisch rekonstruierte Winkler durch die Auswertung der Suchbegriffe "Studien" oder "evidenzbasiertes Handeln" einen Diskurs, in dem Wissenschaft als neutrales Instrument dargestellt wurde, das beispielsweise sozialpolitische Probleme lösen soll. Winkler identifiziert hierbei parteispezifische Unterschiede: Während SPÖ und NEOS den Begriff "Studien" besonders häufig im Bildungsbereich verwendeten und dabei auf die Sozialwissenschaften Bezug nahmen, wurde er von GRÜNEN, ÖVP und FPÖ vor allem in gesundheitspolitischen Debatten im Kontext der Covid-19-Pandemie genutzt.
  • Parteiübergreifend verwendeten Mandatar:innen die untersuchten Wissenschaftsbegriffe strategisch-argumentativ: "(…) In immer mehr bildungs-, sozial- und gesundheitspolitischen Fragen thematisieren Politikschaffende gesellschaftliche Herausforderungen als durch Wissenschaft lösbar, wenn sie von evidenzbasiertem Handeln sprechen. Die Reduktion komplexer sozialer Situationen und Themenfelder auf die Dichotomie 'Ideologie' vs. 'Wissenschaft' wird dabei ambivalent von verschiedenen, politischen Gegner:innen verwendet, die sich gegenseitig unterstellen, 'nicht auf die Wissenschaft' zu hören" (Winkler, 2024, S. 11).

Bianca Winkler weist darauf hin, dass es einer weiterführender Analyse populistischer Rhetorik in parlamentarischen Debatten und ihrer Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Wissenschaft bedarf. So könnte auch eine internationale Vergleichsstudie wichtige Erkenntnisse darüber liefern, wie Wissenschaft in politischen Diskursen unterschiedlich bewertet und genutzt wird.

Ausblick: "Forschungsjahr im Parlament" 2024

Das laufende "Forschungsjahr im Parlament" 2024 ging an das Projekt von Josef Lolacher, der sich mit der Rolle von Expert:innenwissen und öffentlicher Meinung in der Entscheidungsfindung von Nationalratsabgeordneten befasst. Die Ergebnisse des Projekts werden beim Tag der Parlamentsforschung 2025 vorgestellt. Das "Forschungsjahr im Parlament", der Tag der Parlamentsforschung sowie die Digitale Bibliographie Parlamentsforschung sind Projekte der Parlamentsforschung der Parlamentsdirektion, die Nachwuchswissenschaftler:innen fördern und einen kontinuierlichen Austausch von Politik, Verwaltung und Wissenschaft stärken sollen.