Verfassungsdebatten

Verfassungsdebatten von Oktober 1918 bis Juni 1920: Von der ersten Verfassung der Republik und den Vorarbeiten für eine neue Verfassung.

Konstituierende Nationalversammlung

Im Herbst 1918 war es absehbar, dass der 1. Weltkrieg nicht mehr lange dauern würde und eine neue Staatenordnung in Europa im Entstehen war. Am 21. Oktober 1918 kamen die 208 verbliebenen Abgeordneten des Reichsrates, die 1911 in den deutschsprachigen Wahlbezirken gewählt worden waren, im Niederösterreichischen Landhaus zusammen. Sie wollten einen neuen, selbstständigen Staat gründen. Am 30. Oktober 1918 beschlossen sie als Provisorische Nationalversammlung das Gesetz über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt. Das war das Kernstück der ersten republikanischen Verfassung Österreichs.

Die erste Verfassung der Republik

Nachdem Kaiser Karl am 11. November 1918 auf die Teilhabe an den Re­gier­ungs­ge­schäft­en verzichtet hatte, fasste die Provisorische Nationalversammlung am 12. November 1918 den Beschluss betreffend das Gesetz über die Staats- und Reg­ier­ungsform von Deutschösterreich. Damit wurde auch erklärt, dass Deutschösterreich "Bestandteil der Deutschen Republik" sein sollte.

Am 14. November 1918 wurde das Gesetz betreffend die Übernahme der Staats­gewalt in den Ländern beschlossen.

Am 22. November 1918 folgte das Grundgesetz über die richterliche Gewalt, am 18. Dezember 1918 die Änderungen des Gesetzes über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt. Damit verfügte die Republik über funktionsfähige Staatsorgane.

Am 25. Jänner 1919 wurde das Gesetz über die Errichtung eines deutschösterreichischen Ver­fas­sungs­gerichts­hofes beschlossen. Das war der Vorläufer des heutigen Ver­fas­sungs­gerichts­hofes und weltweit das erste Gericht, das diese Bezeichnung trug.

Am 6. Februar 1919 folgte das Gesetz über den Staatsrechnungshof.

Am 14. März 1919 wurden mit dem Gesetz über die Volksvertretung und dem Gesetz über die Staatsregierung die Zuständigkeiten und Rechte von Parlament und Regierung noch einmal genauer geregelt.

Viele Aufgaben, wenig Zeit

Die endgültige Verfassung für die neue Republik sollte eine demokratisch gewählte Konstituierende Nationalversammlung ausarbeiten und beschließen. Diese wurde am 16. Februar 1919 gewählt. Das waren die ersten Wahlen in Österreich, an denen Frauen gleichberechtigt teilnehmen konnten. Die vorgesehene Amtsperiode der Konstituierenden Nationalversammlung betrug zwei Jahre. Eine zweite Kammer (wie der heutige Bundesrat) bestand damals nicht.

Die Konstituierende Nationalversammlung hatte jedoch nicht nur die Aufgabe, eine Verfassung auszuarbeiten. Sie war ein vollwertiges Parlament, das mit der Beratung über sämtliche Gesetzesanträge dieser Zeit und mit der Kontrolle der Regierung befasst war.

Mehr Informationen zur Gründung der Republik finden sich im  im historischen Zeitraum von 1918-1945.

Vorarbeiten für eine neue Verfassung

Die von Oktober bis Dezember 1918 beschlossenen Gesetze über die Staatsorganisation gaben die Schwerpunkte für die endgültige Verfassung vor: eine starke parlamentarische Demokratie und ein Staatsaufbau, in dem den Ländern eine wichtige Rolle zukommen sollte. Wie diese konkret ausgestaltet sein sollte, war jedoch offen. Der Jurist Hans Kelsen, der an den Vorarbeiten für die neue Verfassung mitgewirkt hat, wies 1960 in einer TV-Aufnahme auf diese Vorgaben hin. Er fügte hinzu, dass selbstverständlich auch dem Rechtsstaat besonders große Bedeutung zukommen sollte.

Die Vorbereitungen für die neue Verfassung liefen sehr langsam an. Das Jahr 1919 war durch viele andere politische Herausforderungen geprägt, die dringender zu lösen waren. Besondere Bedeutung kam dabei den Friedensverhandlungen in St. Germain-en-Laye bei Paris zu. Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags am 10. September 1919 wurde das Staatsgebiet Österreichs festgelegt und der neue Staat wurde zur Eigenständigkeit verpflichtet. Ein Anschluss an das Deutsche Reich war damit ausgeschlossen.

Bereits zu Beginn der Friedensverhandlungen hatte Staatskanzler Karl Renner den Auftrag gegeben, konkrete Entwürfe für eine neue Verfassung auszuarbeiten. Das geschah in der Staatskanzlei (der Vorgängerin des Bundeskanzleramts) unter der Leitung von Hans Kelsen, der Professor für Verfassungsrecht an der Universität Wien war. Diese Entwürfe bauten auf den bestehenden Gesetzen über die Staatsorganisation auf. In vielen Fragen griffen sie auf Regelungen und Erfahrungen aus der Monarchie zurück.

Der Jurist Georg Schmitz hat Ende der 1970er-Jahre die Entwürfe, die Hans Kelsen für die Bundesverfassung erstellt hat, wiedergefunden und mit ausführlichen Erläuterungen veröffentlicht:

Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (1981).

Verhandlungen zwischen Staatsregierung, Ländern und Parteien

Im Laufe des Jahres 1919 haben auch die politischen Parteien und die Länder ihre Grundpositionen zur Verfassungsfrage entwickelt und teilweise auch erste eigene Entwürfe präsentiert. Dabei taten sich die westlichen Länder Salzburg, Tirol und Vorarlberg hervor, die sich besonders für eine starke Rolle der Länder in einem Bundesstaat einsetzten, die aber zugleich auch mit einem Austritt aus der Republik drohten.

Erster Entwurf der Christlichsozialen Partei (Antrag Mayr) / PDF, 984 KB

Transkript: Erster Entwurf der Christlichsozialen Partei (Antrag Mayr) / PDF, 729 KB

Staatssekretär für die Verfassungs- und Verwaltungsreform

Bis in den Herbst 1919 war in der Staatsregierung ausschließlich der Sozialdemokrat Karl Renner für Verfassungsfragen zuständig. Am 17. Oktober 1919 wurde jedoch eine Forderung der Christlichsozialen Partei, dem Koalitionspartner der Sozialdemokraten erfüllt: Der Tiroler Abgeordnete und Universitätsprofessor für Geschichte Michael Mayr wurde zum Staatssekretär mit dem Aufgabenkreis der Mitarbeit an der Verfassungs- und Verwaltungsreform ernannt. Er selbst hatte großes Interesse an dem Thema und war um einen Ausgleich mit allen Beteiligten bemüht.

Politische Streitfragen

Die Verhandlungen waren von einer Reihe sehr umstrittener rechtlicher und ideologischer Fragen geprägt. Dazu kam die Unsicherheit darüber, wie die jeweiligen politischen Gegner ihre Machtpositionen gebrauchen würden. Das betraf vor allem das Verhältnis zwischen Bund und Ländern sowie innerhalb der Länder zwischen diesen und den Städten. Dabei ging es unter anderem um Fragen der Ausgestaltung des Wahlrechts (mit dem Ziel, die jeweils eigene Mehrheit zu sichern), der Steuereinhebung und Zuteilung von Finanzmitteln sowie um die Organisation der Sicherheitsbehörden.

Welches Staatsoberhaupt für Österreich?

Besondere Herausforderungen bildeten die Regelungen über das Staatsoberhaupt, die direkte Demokratie und die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. So stand zur Debatte, ob das Staatsoberhaupt vom Volk oder dem Parlament gewählt werden sollte. Die Volkswahl wurde nach dem Vorbild der Verfassung des Deutschen Reichs (Weimarer Reichsverfassung) als Gegen­gewicht zum Parlament verstanden. Das Staats­oberhaupt sollte die Staatseinheit gegenüber der Par­tei­en­viel­falt im Parlament repräsentieren und über starke Rechte verfügen. Diesem Vorschlag stand die Sozialdemokratie skeptisch gegenüber.

Parlament und direkte Demokratie

Bereits im Herbst 1918 hatte man sich auf ein starkes Parlament verständigt. Offen war aber unter anderem, wie die Verbindung Parlament-Wähler:innen organisiert werden sollte. Die Sozialdemokratie sprach sich für sehr kurze Gesetzgebungsperioden aus (etwa zwei Jahre), um eine starke Rückkopplung mit den Bürgern und Bürgerinnen zu garantieren. Die Christlichsozialen favorisierten eine sechsjährige Periode in Kombination mit der Möglichkeit, Volksentscheide über Gesetze herbeizuführen.

Länderkonferenzen in Salzburg und Linz

Am 15. Februar 1920 kamen die Vertreter der Länder zu einer Konferenz in Salzburg zusammen, die zu keinem Ergebnis führte. Von 20. bis 23. April 1920 folgte eine weitere Konferenz in Linz. Dort übernahmen jedoch die politischen Parteien die Federführung. Staatssekretär Mayr präsentierte den "Linzer Entwurf", den die Christlichsozialen unterstützten. Der Abgeordnete der Nationalversammlung Robert Danneberg legte einen Entwurf der Sozialdemokraten vor. Auf dieser Grundlage begannen weitere Parteienverhandlungen. Karl Renner erstellte gemeinsam mit Michael Mayr einen Kompromissentwurf, der als "Renner-Mayr-Entwurf" die weiteren Verhandlungen prägen sollte.

Anlässlich des Jubiläums "80 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz" hat der Historiker Günther Schefbeck die Verhandlungen über die Verfassung und die Positionen der verschiedenen Akteure ausführlich dargestellt:

Schefbeck, "Sozusagen in letzter Stunde ...". Die Entstehung der österreichischen Bundesverfassung (2000) (Transkript) / PDF, 929 KB