Das Ende der Demokratie

Anfang der 1930er erstarkten antidemokratische und antiparlamentarische Kräfte weiter. 1933 nutzte Bundeskanzler Dollfuß eine Geschäftsordnungskrise des Nationalrats, um autoritär zu regieren.

Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und das Beispiel autoritärer Bewegungen im Ausland begünstigten Anfang der 1930er-Jahre die Ausbreitung antidemokratischer und antiparlamentarischer Kräfte. Während die Sozialdemokrat:innen aus den Wahlen von 1930 als stärkste Partei hervorgingen, drohte dem zersplitterten bürgerlichen Lager die parlamentarische Mehrheit und damit die politische Vormacht zu entgleiten. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzte eine Geschäftsordnungskrise des Nationalrats, um das Parlament auszuhebeln.

Nationalratswahl 1930

Im November 1930 waren die Österreicher:innen aufgerufen, einen neuen Nationalrat zu wählen. Bundeskanzler Johannes Schober war wegen eines Streits um die Besetzung der ÖBB-Direktion zurückgetreten. Es sollte der letzte bundesweite Urnengang in der Ersten Republik werden.

In der Original-Aufnahme ruft der sozialdemokratische Parteivorsitzenden Karl Seitz zur Wahl auf.

Wahlgewinn für Sozialdemokraten

Klare Wahlgewinnerin war neuerlich die sozialdemokratische Partei, die mit 72 Mandaten die stimmenstärkste Fraktion im Nationalrat stellte. Die bürgerlichen Parteien hatten diesmal getrennt kandidiert.

Die Christlichsozialen waren in Wien und Niederösterreich ein Wahlbündnis mit den Heimwehren eingegangen und erlitten eine deutliche Niederlage. Sie verloren Stimmen an die erstmals angetretene Wahlpartei der Heimwehren, den antiparlamentarischen Heimatblock, der nun als eigenständige politische Kraft in den Nationalrat einzog.

Gewinne konnte auch der Nationale Wirtschaftsblock verbuchen, der aus Großdeutschen und der nationalliberalen Bauernpartei Landbund bestand. Mit knapp 112.000 Stimmen verfehlten die Nationalsozialisten den Einzug in den Nationalrat.

Das Volk will Stabilität

In Summe konnte das Wahlergebnis als Wunsch der Bevölkerung nach stabilen politischen Verhältnissen gedeutet werden.

Der antiparlamentarische Heimatblock hatte wesentlich schlechter abgeschnitten als erwartet, innerhalb der Christlichsozialen Partei erschienen die gemäßigten Kräfte gestärkt.

Die Zersplitterung erschwerte die Mehrheitsbildung im Nationalrat für das bürgerliche Lager. Die nachfolgenden bürgerlichen Regierungen konnten sich nur auf knappe parlamentarische Mehrheiten stützen.

Autoritäre Krisenbewältigung

Von Beginn an beschäftigten die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise das Parlament. Otto Bauer, führender Theoretiker der sozialdemokratischen Partei, sah in einer Wahlrede 1930 den Kapitalismus als Ursache der Wirtschaftskrise und warnte vor der Gefahr des Faschismus durch ein Bündnis der bürgerlichen Parteien mit rechten, antidemokratischen Kräften.

Anfang Mai 1931 konnte die größte österreichische Bank, die Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, nur durch eine staatliche Rettungsaktion im Umfang von knapp einem Jahresbudget vor dem Zusammenbruch bewahrt werden.

Alle Parteien befürworteten drastische Einschnitte, um das Budget­gleich­gewicht sicherzustellen. Die Vorstellungen über die Art der Einsparungen klafften weit auseinander. Ein Angebot der Christlichsozialen, in eine Koalitions­regierung einzutreten, lehnte die sozial­demokratische Partei ab: Sie wollten nicht der "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" sein. 

In harten Verhandlungen gelang es, den Regierungs­entwurf in wesentlichen Punkten wie der Arbeitslosen­versicherung zu entschärfen. Das Budget­sanierungs­gesetz wurde mit den Stimmen aller Parteien, ausgenommen des Heimatblocks, beschlossen.

Zenit der Wirtschaftskrise

1932/33 erreichte die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt. Die Zahl der Arbeitslosen stieg auf knapp 600.000. Gleichzeitig wuchs die Kritik am Parlamentarismus.

Auch die Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß teilte zusehends die Auffassung, die Sanierungsmaßnahmen nur mit Hilfe autoritärer Mittel durchsetzen zu können.

Warnende Stimmen blieben in der Minderheit. So auch Karl Renner, der in einer Rede 1931 - in der Annahme, dass der Bundespräsident zum ersten Mal durch eine Volkswahl gewählt werde - zu einer "völligen Wende" im "Geist der Verständigung und Zusammenarbeit" von 1918 aufrief.

Erster Schritt zur Umgehung des Parlaments

Im Oktober 1932 setzte die Regierung einen ersten Schritt zur Umgehung des Parlaments: Unter dem Vorwand der Verfolgung der Bankdirektoren, die für die Krise der Credit-Anstalt verantwortlich waren, erließ sie eine Notverordnung. Sie basierte auf dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917, einer aus der Monarchie stammenden Regelung zur Erleichterung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung.

Die sozialdemokratische Opposition versuchte vergeblich, eine Aufhebung dieses Ermächtigungsgesetzes zu erreichen.  Mit einer Dringlichen Anfrage betreffend die "mißbräuchliche Anwendung" erzwang sie lediglich eine Behandlung der Materie im Nationalrat.

Grundsatzfrage der Demokratie

Der Hauptredner, Karl Seitz, warf der Regierung Verfassungsbruch vor. Dieser sei plump mit einer von der Opposition seit langem geforderten Heranziehung der Schuldigen der Credit-Anstalt-Krise verbrämt worden.

Den Kern der Sache formulierte als Grundsatzfrage: "Wollen wir eine Republik Österreich, wollen wir Demokratie in Österreich, oder wollen wir die Herrschaft irgendeines einzelnen Menschen, eines Klüngels von einigen Menschen, die da regieren wollen!"

Der sozialdemokratische Misstrauensantrag gegen die Regierung blieb ohne Mehrheit.

Ausschaltung des Nationalrats

Rund vier Monate nach der erstmaligen Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes trat die von der sozialdemokratischen Opposition befürchtete Gefährdung der Demokratie ein.

Bei einer außerordentlichen Sitzung des Nationalrats am 4. März 1933 in Zusammenhang mit einem Streik der Eisenbahner, an dem die Gewerkschaften aller politischen Richtungen beteiligt waren, traten die drei Präsidenten des Nationalrats nach einer umstrittenen Abstimmung zurück.

Der Nationalrat war handlungsunfähig.

Dollfuß übernimmt

Bundeskanzler Dollfuß erklärte daraufhin, der Nationalrat habe sich "selbst ausgeschaltet". Er regierte ab da autoritär, mittels Notverordnungen auf Grundlage des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und ohne Parlament.

Auf Versuche des Dritten Präsidenten, den Nationalrat zu einer Sitzung am 15. März einzuberufen, antwortete die Regierung mit Polizeigewalt. Sie hinderte sozialdemokratische und großdeutsche Abgeordnete am Betreten des Hohen Hauses.

Die parlamentarische Demokratie in Österreich war damit de facto beendet. Dass der Bundesrat weiter tagte und die Verfassung formell aufrecht blieb, änderte daran nichts.

Versuche der Opposition, über den Bundesrat eine Einberufung des Nationalrats zu erreichen, schlugen fehl.

Autoritärer Staat mit Scheinparlament

Im Februar 1934 drängte die Bundesregierung in einem blutigen Bürgerkrieg die sozialdemokratische Opposition in die Illegalität. Ein Filmdokument zeigt die Ereignisse aus der Perspektive der Regierung, die die Kampfhandlungen als einen sozialdemokratischen Putschversuch darstellte.   

Mehr Schein als Sein

Übrig blieb ein "Rumpfnationalrat" ohne die Abgeordneten der sozialdemokratischen Opposition. Ihre Mandate waren per Notverordnung für erloschen erklärt worden. 

Dieses Scheinparlament ermächtigte die Regierung am 30. April 1934 zur Erlassung der ständisch-autoritären Verfassung. Der offizielle Name des Staates lautete nunmehr "Bundesstaat Österreich".

Als Träger der Staatsgewalt fungierte nicht mehr das Volk. In der Präambel zur Verfassung hieß es: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung."

Die aufgrund dieses Regelwerks eingerichteten Organe der Bundesgesetzgebung waren Institutionen eines Scheinparlaments: Weder der Art seines Zustandekommens nach noch der ihm gestellten Aufgaben nach kann es als Parlament im eigentlichen Sinn gelten.

Folgen für sozialdemokratische Abgeordnete

In den vier Jahren des autoritären Regimes wurden viele Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei aus politischen Gründen kurzfristig inhaftiert. 13 von ihnen wurden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sechs Abgeordnete entzogen sich der Verfolgung durch Emigration.

Der Abgeordnete und Kommandant des Republikanischen Schutzbundes in der Obersteiermark, Koloman Wallisch, wurde nach den Februarkämpfen standrechtlich hingerichtet.

Zwei Abgeordnete, die bei den Wahlen 1930 den Christlichsozialen bzw. dem Heimatblock angehört hatten, wurden vom autoritären Regime mit Freiheitsstrafen belegt.

Kurze Unabhängigkeit

Das Ziel, in der Konkurrenz zum nationalsozialistischen Deutschland zu bestehen und Österreichs staatliche Unabhängigkeit zu sichern, verfehlte das autoritäre Regime.

Im März 1938 beendete der Einmarsch deutscher Truppen Österreichs staatliche Existenz gewaltsam. Mit dem von vielen Menschen begrüßten "Anschluss" wurde Österreich zu einem Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs.

Demokratisch-parlamentarische Einrichtungen bestanden in keinem der beiden Systeme.