Nach der Auflösung der Monarchie steht die Politik vor der Aufgabe, das Vertrauen der Bevölkerung in die neuen Staatsorgane zu festigen. Die Voraussetzungen dafür sind schwierig: Die Lebensbedingungen haben sich nach dem Waffenstillstand nicht verbessert. Abgeschnitten von den ehemaligen Versorgungsgebieten fehlt es dem neuen Staat an Nahrungsmitteln und Kohle.
Das Parlament im Zentrum
Angst vor Unregierbarkeit als gemeinsamer Nenner
Die Arbeitslosigkeit nach dem Krieg ist hoch, die Hoffnung in der Bevölkerung gering. Weder für die von der Front zurückströmenden Soldaten noch für die Beschäftigten der zahlreichen, wegen Kohle- und Rohstoffmangels stillstehenden Betriebe gibt es Arbeit.
Angesichts der herrschenden Not ist die Stimmung in den Ballungszentren verzweifelt und gedrückt. Die Sorge der politischen Parteien ist groß, dass so wie in Bayern oder Ungarn radikale Gruppen von Soldaten, Arbeiter:innen und Intellektuellen an Einfluss gewinnen und eine Revolution nach russischem Vorbild anzetteln würden.
Aus Angst vor einem kommunistischen Putsch und der Unregierbarkeit des neuen Staates steigt die Kompromissbereitschaft der Parlamentsparteien. In der Provisorischen Nationalversammlung, deren Zusammensetzung noch auf den Reichsratswahlen von 1911 beruht, stellen die Deutschnationalen die stärkste Fraktion. Dahinter folgen die Christlichsozialen. Politisch dominierende Kraft sind aber die Sozialdemokraten. Ihnen wird zugetraut, den sozialen und politischen Ausgleich in der Bevölkerung zustande zu bringen.
Trotz gegensätzlicher ideologischer Auffassungen können sich die Parteien in vielen Belangen einigen. Besonders im Sozialbereich setzen sie rasch ein großes Reformwerk um: Achtstundentag, Urlaub, Arbeitslosenversicherung, Kollektivvertrag, Betriebsräte und zahlreiche andere Regelungen setzen neue Maßstäbe.
In einer Ansprache 1931 erinnert Karl Renner an die Staatsgründung und die schwierige Aufgabe der Koalitionsregierung.
Neues Wahlrecht
Zu den wichtigsten Aufgaben der Provisorischen Nationalversammlung zählt die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Abhaltung von Wahlen zu einer Konstituierenden Nationalversammlung. Diese soll dauerhafte Grundliegen für die neue Republik schaffen – also vor allem eine Verfassung ausarbeiten.
Jetzt wird Österreich eine Demokratie: Es wird ein allgemeines Wahlrechts "ohne Unterschied des Geschlechts" geschaffen. Erstmals sind grundsätzlich alle Männer und Frauen wahlberechtigt, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet haben. Vom Wahlrecht ausgeschlossen sind aber etwa Personen, die wegen bestimmter Verbrechen oder Vergehen verurteilt sind, die entmündigt sind oder auch Prostituierte.
Im Unterschied zum Abgeordnetenhaus der Monarchie soll die Konstituierende Nationalversammlung nach dem Prinzip der Verhältniswahl gewählt werden. Das heißt, es werden nicht mehr einzelne Abgeordnete gewählt. Die Parteien sollen entsprechend ihres Stimmanteils im Parlament vertreten sein. Das ist bereits mit dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform vom 12. November 1918 beschließen worden. Binnen weniger Wochen einigen sich die Parteien in der Folge auch auf eine Wahlordnung für die Konstituierende Nationalversammlung.
In der Frage des Wahlsystems herrscht weitgehender Konsens: Alle im Parlament vertretenen Parteien halten die Verhältniswahl für die beste Methode, ihr politisches Bestehen im Falle einer Minderheitsposition zu sichern.
Kontroversen gibt es hinsichtlich der Ausgestaltung, v. a. der Einteilung der Wahlkreise und der Erstellung der Wahllisten. Sozialdemokraten und Christlichsoziale setzen sich mit der Festlegung auf gebundene, von den Parteien erstellte Listen durch. Die Deutschnationalen kritisieren diese als Begünstigung des "Parteibonzentums" und Benachteiligung kleiner Parteien. Debatten gibt es auch bezüglich des Wahlalters: Für das aktive Wahlrecht wird es mit 20 Jahren, für die Wählbarkeit mit 29 Jahren festgelegt.
Frauenwahlrecht wird eingeführt
Mit der Wahlreform erhalten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Die Entscheidung der Abgeordneten ist nicht selbstverständlich, denn sowohl bei den bürgerlichen Parteien als auch in der sozialdemokratischen Partei gibt es Vorbehalte gegen die Beteiligung von Frauen am politischen Leben.
Die Sozialdemokraten befürchten, dass Frauen vor allem konservativ wählen würden, die Christlichsozialen, dass ihre potentiellen Wählerinnen nicht zur Wahl gehen könnten. Sie bestehen deshalb, zum Missfallen der Sozialdemokraten, auf der Einführung der Wahlpflicht als "wichtiges Erziehungsmittel vor allem für die Frauen". Die Wahlpflicht wird als landesgesetzlich festzulegende Regelung in das Bundesgesetz aufgenommen.
Die Deutschnationalen äußern in der Debatte zur neuen Wahlordnung Bedenken, dass man mit dem Wahlgesetz "die Frauen in die politische Arena hineinziehen will". Auch sie misstrauen den abschätzig als "Wahlweibern" bezeichneten künftigen Wählerinnen.
Die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung
Die Wahl am 16. Februar 1919 findet nur in 25 der vorgesehenen 38 Wahlkreise statt. In den böhmischen, mährischen und schlesischen Wahlkreisen wird sie gar nicht abgehalten, in einigen anderen wegen ungeklärter Gebietsansprüche nur teilweise. Die Wahlbeteiligung der Frauen ist etwas niedriger als die der Männer, liegt aber mit mehr als 82 % sehr hoch.
Das Wahlergebnis verändert die Kräfteverhältnisse (im Unterschied zu 1911) zugunsten der Sozialdemokrat:innen, die als stärkste Partei mit 72 Abgeordneten ins Parlament einziehen. Knapp dahinter liegen die Christlichsozialen mit 69 Sitzen. Das Wahlbündnis der Deutschnationalen erhält nach großen Verlusten 27 Sitze. Zwei Mandatare gehören kleinen Parteien an.
Die ersten weiblichen Abgeordneten
Insgesamt erhalten 1919 acht Frauen ein Mandat in der Konstituierenden Nationalversammlung. 162 Mandate gehen an männliche Abgeordnete. Der Einsatz für gleiche Rechte und der Kampf um soziale Gerechtigkeit prägen die parlamentarische Arbeit dieser Pionierinnen.
Die Sozialdemokrat:innen und Christlichsozialen bilden eine Koalitionsregierung unter der Leitung von Staatskanzler Karl Renner.
Die Mitglieder der neuen Regierung wählen die Konstituierende Nationalversammlung in ihrer Sitzung am 15. März 1919.
Friedensverhandlungen von Saint-Germain-en-Laye
Parlament und Regierung arbeiten an den verfassungsmäßigen Grundlagen des Staates, der Klärung der Staatsgrenzen und der Sicherung der inneren Stabilität.
Die Staatsgrenzen legt der im September 1919 geschlossene Staatsvertrag von Saint-Germain-en-Laye fest, mit dem Österreich auch der Anschluss an das Deutsche Reich untersagt wird.
Karl Renner, Leiter der österreichischen Delegation, fasst die Ergebnisse der Verhandlungen in einer Rede 1931 rückblickend zusammen: Er spricht von einem "harten Friedensdiktat".
Bedrängt von inneren Unruhen
Gewaltsame Unruhen prägen die ersten Monate der Tagung der Nationalversammlung. Die kommunistische Bewegung erhält durch das Beispiel der Räterepubliken in Ungarn und Bayern starken Auftrieb. Mit den "Roten Garden" hat sie Einfluss in der Volkswehr, dem provisorischen Heer des neuen Staates.
Dass die Gefahr eines Umsturzes bestand, zeigen zwei Gewaltausbrüche: einer am Gründonnerstag 1919 und, der folgenschwerere mit 26 Toten und mehr als hundert Verletzten, am 15. Juni 1919.
Mit dem Ende der Räteherrschaft in den Nachbarstaaten flauen die kommunistischen Aktivitäten in Österreich ab. Zur inneren Befriedung trägt die Fortführung der Arbeits- und Sozialreformen bei, welche die Konstituierende Nationalversammlung vor allem im ersten Jahr beschäftigen.
Konstituierende Nationalversammlung erarbeitet Verfassung
Die Arbeiten an einer definitiven Verfassung dauern bis Herbst 1920. Zwei konkurrierende Modelle stehen zur Debatte: Die Sozialdemokrat:innen wollen dem Parlament eine politische Vorrangstellung einräumen und den Bund gegenüber den Ländern stärken, die Christlichsozialen plädieren für eine weitgehende Autonomie der Länder und größere Selbständigkeit der Regierung.
Als wichtiger Berater bei der Erarbeitung der Verfassung wirkt der Staatsrechtslehrer Hans Kelsen.
Nach langwierigen Verhandlungen, die auch im Rahmen von Länderkonferenzen geführt werden, legt der Unterausschuss des Verfassungsausschusses den Verfassungstext vor. Den Unterausschuss geleitet haben der Sozialdemokrat Otto Bauer und der Christlichsoziale Ignaz Seipel. Sie gelten als die führenden Denker und Verfassungsexperten ihrer Parteien.
Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes am 1. Oktober 1920
Der Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes durch die Konstituierende Nationalversammlung geschieht am 1. Oktober 1920. Er ist einstimmig möglich, weil bestimmte Punkte wie die Finanzverfassung, Fragen der Organisation der Verwaltung in den Ländern und der Kompetenzen im Schul- und Erziehungswesen, aber auch die Grundrechte ausgeklammert worden sind. Einige dieser Bereiche werden im Rahmen der Verfassungsnovelle 1925 geregelt.
In der Frage der Grundrechte behilft man sich mit der Übernahme der Bestimmungen über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger:innen aus dem Staatsgrundgesetz von 1867.
Die Verfassung von 1920 begründet den österreichischen Staat als eine bundesstaatliche Republik mit einem stark parlamentarisch geprägten System.
Auf Bundesebene werden zwei Parlamentskammern eingerichtet: der direkt vom Volk gewählte Nationalrat und der von den Landtagen beschickte Bundesrat als Vertretung der Länder. Der Nationalrat wählt die Bundesregierung, die von dessen Vertrauen abhängig ist.
Vom Parlament abhängig ist auch der Bundespräsident, dessen Amtsperiode vier Jahre dauert. Er wird von der aus Nationalrat und Bundesrat bestehenden Bundesversammlung gewählt. Bei der Wahl des neuen Staatsoberhaupts am 9. Dezember 1920 findet sich erst im fünften Wahlgang eine Mehrheit für einen Kompromisskandidaten, den parteilosen Juristen Michael Hainisch.