Parteien und Parlament verändern sich

1986 beendet die Kleine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ ihre Zusammenarbeit. Zum ersten Mal seit 1966 regiert wieder eine Große Koalition, die bis 1999 halten soll. Neue Parteien erscheinen auf der parlamentarischen Bühne und Österreich tritt 1995 der Europäischen Union bei.

Neue Parteien entstehen, die Lager beginnen zu bröckeln

Die Nationalratswahl 1986 bringt Veränderungen mit sich, die mittelfristig zu einer Umgestaltung der Parteienlandschaft und des Parlaments führen: Erstmals seit 1959 ziehen mit den Grünen wieder Vertreter:innen einer vierten Partei in den Nationalrat ein – sie erlangen acht Mandate. Als zweiter "Wahlgewinner" sah sich die FPÖ, die unter ihrem neuen Obmann Jörg Haider ihren Stimmenanteil beinahe auf zehn Prozent verdoppeln kann. Die beiden Großparteien liegen trotzdem mit großem Stimmenvorsprung voran, auch wenn SPÖ und ÖVP Stimmen verlieren. Die SPÖ verteidigt die Mandatsmehrheit und bildet unter Franz Vranitzky eine Koalition mit der Volkspartei.

Diese Koalition besteht bis ins Jahr 1999. Vranitzky bleibt über zehn Jahre lang Bundeskanzler. 1997 löst ihn Viktor Klima ab. Erstmals seit den frühen 1960er-Jahren gibt es in Österreich also wieder eine Große Koalition, wenn auch unter anderen Vorzeichen. Vor 1966 hatten sich die Bundeskanzler von ÖVP und SPÖ abgewechselt. Jetzt stellt die SPÖ für 13 Jahre den Regierungschef. Aber auch die Gesellschaft hat sich stark verändert. Ist in den 1950er- und 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Parteitreue der Österreicher:innen ein bestimmender Faktor, der sich durch alle Lebensbereiche zieht, zeigen sich in den 1980er-Jahren starke Auflösungserscheinungen dieser "Lagermentalität". Zudem nimmt auch die Kritik an der Sozialpartnerschaft und deren Einfluss auf die Politik sowie die Verunsicherung aufgrund des Zerfalls der kommunistischen Regime im Osten zu.

Diese Entwicklungen zeigen sich nicht nur an schwindenden Mitgliederzahlen der etablierten Parteien, sondern auch am Wahlverhalten: Es gibt immer mehr Wechselwähler:innen und die Oppositionsparteien erstarken deutlich. Während die FPÖ und Grüne 1990 auf Kosten der ÖVP gewinnen (die Volkspartei verliert 17 Mandate; mehr dazu in einem Ö1-Radiobeitrag), verliert 1994 auch die SPÖ 15 Mandate (ein Ö1-Radiobeitrag berichtet über die historischen Tiefststände von SPÖ und ÖVP). Die FPÖ etabliert sich mit 22,5 % der abgegebenen Wahlstimmen als Mittelpartei und stellt im Nationalrat nur mehr zehn Abgeordnete weniger als die ÖVP. Erst bei den Nationalratswahlen 1995 erreichen SPÖ und ÖVP wieder eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat.

Der National­rat gewinnt an Bedeutung

Der Nationalrat ist lange von zwei Parteien, der SPÖ und der ÖVP, dominiert worden. Auch wenn die beiden Parteien seit 1966 keine Regierungskoalition mehr stellen, haben sie im Rahmen der Sozialpartnerschaft immer eng zusammengearbeitet. Gesetzesvorhaben werden mit den Sozialpartnern und zwischen den beiden Parteien ausgehandelt. Das Verfahren im Nationalrat wird dann oft auf die absolut notwendigen Schritte – einmalige Behandlung im Ausschuss und danach Beschlussfassung im Nationalratsplenum – beschränkt. Die Debatten im Nationalrat bleiben kurz.

Das ändert sich 1986, als es zwei Oppositionsparteien gibt, die, wenn auch vorerst begrenzt, mehr Sitze im Nationalrat als je zuvor haben. Sie nutzen alle Möglichkeiten, die das Parlament ihnen bietet, und wollen den Nationalrat wieder zu einem Zentrum der politischen Auseinandersetzung in Österreich machen.

Bald zeigt sich, dass die Regeln der Geschäftsordnung und deren Verständnis in der Praxis nicht mehr passen. Zum einen ist es den kleinen Oppositionsparteien nicht möglich, bestimmte Kontrollinstrumente wie die Dringliche Anfrage zu nutzen. Solange die ÖVP Oppositionspartei war, hatte sie immer über 70 Abgeordnete und konnte so alle Minderheitsrechte der Geschäftsordnung von 1975 in Anspruch nehmen. Die Anzahl der Mandate von FPÖ und Grünen ist zu gering dafür. Zum anderen können die Abgeordneten der Opposition aber die großzügigen Regeln der Redezeit nutzen, die zuvor kaum in Anspruch genommen worden sind. Es liegt daher im Interesse von Regierungs- und Oppositionsparteien, einen Ausgleich zu finden. Ab 1988 beginnen die Parlamentsklubs mit einer Überarbeitung der Geschäftsordnung. Diese etabliert neue Regeln für die Verteilung der Redezeit, eine bessere Planbarkeit der Arbeit des Nationalrates und mehr Rechte für parlamentarische Minderheiten.

Neue Parteien und neue Koalitionen

Trotz steter Zugewinne bei Nationalratswahlen muss aber auch die FPÖ Anfang der 1990er-Jahre Rückschläge hinnehmen. So treten im Februar 1993 fünf Abgeordnete aus dem Parlamentsklub der FPÖ aus und bilden einen neuen Klub im Nationalrat. Das Liberale Forum ist geboren und gründet in weiterer Folge auch eine politische Partei. Parteiobfrau Heide Schmidt erklärt ihre Beweggründe in einer Pressekonferenz. Erstmals in der Zweiten Republik teilen sich die Nationalratsabgeordneten auf fünf Klubs auf. Nach der Nationalratswahl 1999 scheidet das Liberale Forum jedoch wieder aus dem Parlament aus, da die Partei bei ihrem dritten Antreten den Einzug in den Nationalrat nicht mehr schafft.

1999 wird noch ein weiteres Kapitel vorübergehend geschlossen: Bei der Nationalratswahl am 3. Oktober verliert die SPÖ Stimmen und Mandate. Die ÖVP kann ihren Mandatsstand stabil halten, fällt aber gemessen an Stimmen knapp hinter die FPÖ zurück und ist damit erstmals in ihrer Geschichte nur drittstärkste Kraft. In den folgenden Koalitionsverhandlungen einigt sich die die ÖVP mit der FPÖ auf eine Regierungszusammenarbeit: Die Zeit der so genannten "Wende" ist angebrochen. Eine Sonderseite der Österreichischen Mediathek gibt einen Einblick in diese turbulente Periode der österreichischen Innenpolitik.