Fachinfos - Judikaturauswertungen 17.03.2025

Anspruch auf Zugang zu Urteilsbegründungen aus Art. 10 EMRK

EGMR, 4.3.2025, 4326/18, Girginova gg. Bulgarien

Einer Journalistin wurde die Einsicht in die von bulgarischen Gerichten als geheim eingestufte Begründung eines strafgerichtlichen Urteils in einem clamorösen Fall verweigert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) qualifizierte die pauschale Geheimhaltung der Urteilsbegründung als Verletzung des Rechts auf Zugang zu staatlicher Information aus Art. 10 EMRK. Diese Bestimmung gewährt ein Recht auf Zugang zu bei Behörden vorhandenen Informationen u.a. dann, wenn dies für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung durch die betreffende Person notwendig ist. Diese Entscheidung schreibt die Rechtsprechungslinie des EGMR zum Recht auf Zugang zu staatlichen Informationen unter bestimmten Voraussetzungen fort (grundlegend EGMR [GK], 8.11.2017, 18030/11, Magyar Helsinki Bizottság gg. Ungarn; vgl. auch die Judikaturauswertungen zu den darauf aufbauenden Entscheidungen österreichischer Gerichte VfGH 4.3.2021, E 4037/2020; OGH 5.12.2022, 5 Ob 178/22w und VwGH 24.10.2024, Ra 2023/05/0006).

Sachverhalt

Anfang 2015 wurde ein ehemaliger bulgarischer Innenminister im Zuge eines strafgerichtlichen Verfahrens freigesprochen. Ihm war vorgeworfen worden, für weitreichende, rechtswidrige verdeckte Überwachungen durch Mitarbeiter:innen seines Ressorts verantwortlich zu sein. Das Verfahren wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit durchgeführt und die Begründung des Freispruches nicht veröffentlicht. In der Folge versuchte die Beschwerdeführerin, eine Journalistin, Zugang zu dieser Urteilsbegründung zu erlangen. Die bulgarischen Gerichte versagten ihr dies. Begründend führten sie aus, dass die Urteilsbegründung technische Details über die bei verdeckten Überwachungen gebrauchte Ausrüstung enthalte; dabei handle es sich um geheime Informationen, weshalb der gesamte Akt (samt des Urteils) als geheim einzustufen sei. Nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges machte die Beschwerdeführerin eine Verletzung in ihren Rechten gemäß den Art. 10 und 13 EMRK beim EGMR geltend.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK)

Der EGMR erachtete die Beschwerde zunächst als zulässig, weil die Verweigerung der Einsicht in die Urteilsbegründung die Beschwerdeführerin in ihren Rechten gemäß Art. 10 EMRK berühre:

Zwar verleihe Art. 10 EMRK ausdrücklich weder das Recht auf Zugang zu Informationen, die sich in staatlichem Besitz befinden, noch verpflichte diese Bestimmung staatliche Stellen, solche Informationen herauszugeben. Allerdings habe der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung (Verweis auf EGMR [GK], 8.11.2017, 18030/11, Magyar Helsinki Bizottság gg. Ungarn) festgehalten, dass ein solches Recht bzw. eine solche Verpflichtung entstehen kann, wenn die Offenlegung der Informationen von einem Gericht angeordnet wurde oder wenn der Zugang zu den Informationen für die Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung der anfragenden Person von Bedeutung ist.

Die (kumulativen) Kriterien zur Bestimmung, ob der Zugang zu Informationen für die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit von Bedeutung ist, sind: der Zweck der Informationsanforderung, die Art der angeforderten Informationen, die Rolle der informationssuchenden Person beim Erhalt und der Weitergabe der Informationen an die Öffentlichkeit und ob die Informationen bereit und verfügbar sind.

In diesem Fall sei das erste Kriterium erfüllt, weil das Begehren der Beschwerdeführerin Teil ihrer Arbeit als Journalistin sei und sie bereits einen Artikel über das Verfahren gegen den ehemaligen Innenminister publiziert habe. Das zweite Kriterium sei erfüllt, weil das gegen den ehemaligen Innenminister geführte Strafverfahren auf Grund der Art der Vorwürfe von besonderem öffentlichen Interesse gewesen sei. Auch das dritte Kriterium sei erfüllt, weil es sich bei der Beschwerdeführerin um eine Journalistin im Rahmen ihrer Berufsausübung gehandelt habe. Schließlich sei auch das vierte Kriterium erfüllt, weil die angefragten Informationen bereit und verfügbar gewesen seien.

Weil sohin die vom EGMR aufgestellten Kriterien betreffend das Recht auf Zugang zu Informationen, die sich in staatlichem Besitz befinden, erfüllt gewesen seien, habe eine Verpflichtung Bulgariens bestanden, der Beschwerdeführerin die gewünschte Urteilsbegründung auszuhändigen. Weil dieser Verpflichtung nicht nachgekommen worden sei, liege ein Eingriff in die Rechte der Beschwerdeführerin gemäß Art. 10 EMRK vor.

Dieser könne aber gerechtfertigt sein, wenn er gesetzlich vorgesehen sei, ein in dieser Bestimmung genanntes legitimes Ziel verfolge und zur Erreichung dieses Ziels in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei.

In diesem Fall sei bereits fragwürdig, ob der Eingriff gesetzlich vorgesehen sei. Es sei nämlich unklar, unter welchen Umständen Journalist:innen Zugang zu Urteilsbegründungen erhalten könnten. Damit ein Eingriff aber als "gesetzlich vorgesehen" gelte, müsse er unter anderem vorhersehbar sein. Diese Frage könne jedoch dahinstehen, weil der Eingriff ohnedies nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sei.

Ungeachtet dessen verfolge die Beschränkung des Informationszugangs ein legitimes Ziel, weil die Offenlegung verdeckter behördlicher Überwachungsmöglichkeiten deren künftigen Einsatz in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit beeinträchtigen könnte (vgl. dazu die Judikaturauswertung zu EGMR 3.2.2022, 39325/20, Šeks gg. Kroatien).

Es sei jedoch fraglich, ob es in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei, der Öffentlichkeit sämtliche Gründe für den Freispruch des ehemaligen Innenministers vorzuenthalten, um das staatliche Bedürfnis nach Geheimhaltung von Überwachungsmöglichkeiten zu befriedigen. Der EGMR habe nämlich bereits mehrfach festgehalten, dass auch in Fällen, die die nationale Sicherheit tangieren, die vollständige Geheimhaltung eines Urteils nicht gerechtfertigt sei. Es sei nämlich möglich, legitime Sicherheitsbedenken zu berücksichtigen, ohne auf fundamentale Verfahrensgarantien wie die Öffentlichkeit gerichtlicher Entscheidungen zu verzichten; etwa durch teilweise Schwärzungen. Auch hätte das Gericht die Möglichkeit, zwei Fassungen des Urteils zu erstellen: Eine "offene", öffentlich zugängliche und eine "geschlossene" Fassung, die lediglich den Verfahrensparteien und ihren Vertreter:innen zugänglich ist und die jene Teile des Urteils enthält, die der "offenen" Fassung vorenthalten werden müssten, weil andernfalls die nationale Sicherheit gefährdet wäre.

Sohin hätten die bulgarischen Gerichte das von ihnen verfolgte Ziel auf anderem Wege erreichen können. Die Geheimhaltung der gesamten Urteilsbegründung falle daher aus jedem akzeptablen Beurteilungsspielraum heraus und sei in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen, weshalb Art. 10 EMRK verletzt worden sei.

Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK)

Die Beschwerdeführerin machte darüber hinaus geltend, in ihrem Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK verletzt worden zu sein. Auch in diesem Punkt erkannte der EGMR eine Verletzung der genannten Bestimmung: Eine "wirksame Beschwerde" im Sinne des Art. 13 EMRK müsse die zuständige staatliche Behörde dazu ermächtigen, sich sowohl mit dem Inhalt der Beschwerde befassen, als auch angemessenen Rechtsschutz gewähren zu können. Dem sei weder das von der Beschwerdeführerin angestrengte Rechtsschutzverfahren gerecht geworden, noch wäre ihr nach bulgarischem Recht ein anderes Verfahren offen gestanden, um Rechtsschutz zu erlangen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).