Mit insgesamt 16 Entscheidungen binnen sieben Monaten wurden Verordnungsbestimmungen für gesetzwidrig erklärt bzw. aufgehoben. Zum überwiegenden Teil (siehe Tabelle) begründete der VfGH seine Entscheidung damit, dass die zuständige Behörde die Verordnungsgründe nicht oder nicht ausreichend aufbereitet hätte. Schon in der Entscheidung betreffend die Lockerungen für Handelsbetriebe vom 14. Juli 2020 (V 411/2020, Rz 74 und Rz 78-80) machte der VfGH klar, welche Konsequenzen sich aus der Geltung des Legalitätsprinzips (Bindung der Verwaltung an das Gesetz) und aus dem Umstand ergaben, dass das COVID-19-Maßnahmengesetz der Verwaltung großen Entscheidungsspielraum eingeräumt hatte:
„Determiniert das Gesetz die Verordnung inhaltlich nicht so, dass der Verordnungsinhalt im Wesentlichen aus dem Gesetz folgt, sondern öffnet die Spielräume für die Verwaltung so weit, dass ganz unterschiedliche Verordnungsinhalte aus dem Gesetz folgen können, muss der Verordnungsgeber die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände entsprechend ermitteln und dies im Verordnungserlassungsverfahren auch nachvollziehbar festhalten, sodass nachgeprüft werden kann, ob die konkrete Verordnungsregelung dem Gesetz in der konkreten Situation entspricht.“
Insbesondere sei festzuhalten, „auf welcher Informationsbasis über die nach dem Gesetz maßgeblichen Umstände die Verordnungsentscheidung fußt und die gesetzlich vorgegebene Abwägungsentscheidung erfolgt.“ Für den VfGH ist maßgeblich, welche aktenmäßige Dokumentation „zum Zeitpunkt der Erlassung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen“ vorliegt.
„Auch in Situationen, die deswegen krisenhaft sind, weil für ihre Bewältigung entsprechende Routinen fehlen, und in denen der Verwaltung zur Abwehr der Gefahr gesetzlich erhebliche Spielräume eingeräumt sind, kommt solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu.“
Die bislang letzte Entscheidung mit dieser Berufung auf das Legalitätsprinzip gemäß Art. 18 B-VG erging am 10. Dezember 2020 (V 436/2020): Zwei minderjährige Schülerinnen und ihre Eltern hatten vorgebracht, dass die Pflicht zum Tragen des Mund-Nasen-Schutzes und die Teilung der Klassen mit alternierendem Präsenz- und Distanzunterricht in das Grundrecht auf Bildung und ihr Grundrecht auf Privatleben eingreife sowie gleichheitswidrig sei. Der Bundesminister für Bildung, Wissenschaft und Forschung erstattete im VfGH-Verfahren eine umfassende Äußerung, um die Notwendigkeit der Maßnahmen der COVID-19-Schulverordnung (C-SchVO) zu begründen, legte jedoch trotz entsprechender Aufforderung keine Unterlagen vor, die die Entscheidungsfindung vor Erlassung der Verordnung dokumentierten. Der VfGH stellte daher fest, dass die bis 2. Juni geltende Verpflichtung zum Tragen von Masken in Schulgebäuden und der bis Ende des Schuljahres 2019/20 geltende Schichtbetrieb in den Schulen (allein) aus diesem Grunde gesetzwidrig war. Auf die vorgebrachten Grundrechtsverletzungen ging der VfGH nicht mehr ein.
Tabelle 1: Verfassungs- und gesetzwidrige COVID-19-Verordnungsbestimmungen 2020
*V-96 ist die Kurzform für Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020 vom 15. März 2020.
**V-98 ist die Kurzform für Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz gemäß § 2 Z 1 des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl II 98/2020 vom 15. März 2020.
***V-197 ist die Kurzform für COVID-19-Lockerungsverordnung des BMSGPK, BGBl II 197/2020 vom 30. April 2020.
****C-SchVO-208 ist die Kurzform für Verordnung des BM für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur Bewältigung der COVID-19 Folgen im Schulwesen für die Schuljahre 2019/20 und 2020/21, BGBl II 208/2020 vom 13. Mai 2020.
Quelle: eigene Recherche, Stand 9.2.2021.
Die Tabelle samt Verlinkung auf die jeweiligen Urteile des Verfassungsgerichtshofes kann hier heruntergeladen werden: Tabelle / PDF, 133 KB