Fachinfos - Fachdossiers 11.04.2023

Was ist evidenzbasierte Gesetzgebung?

Politische Entscheidungen sollen auf Basis evidenzbasierter Grundlagen erfolgen. Dieses Fachdossier erläutert, was damit gemeint ist und wie sich das auf politische Praxis und gerichtliche Kontrolle auswirken kann. (11.04.2023)

Muss Politik der Wissenschaft folgen?

Der Umgang mit der COVID-19-Pandemie und der Klimaerhitzung werden von intensiven Debatten über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik begleitet. Ein Schlüsselbegriff dabei ist Evidenzbasierung. Im Zentrum steht die Frage, inwieweit politische Entscheidungen dadurch besser informiert getroffen werden können, und wie sehr wissenschaftliche Erkenntnisse und ökonomische Notwendigkeiten diese beeinflussen sollen. Auf einer grundlegenden Ebene geht es darum, ob Demokratie auf Wahrheitsansprüche angewiesen ist oder ob sie bloß Interessensausgleich schaffen soll.

Was bedeutet Evidenzbasierung?

Evidenz oder Beweis ist ein Begriff, der vor allem aus dem Recht bekannt ist. Er meint jedes Ding oder jede Information, das bzw. die vorgebracht werden kann, um das Vorliegen einer Tatsache mehr oder weniger wahrscheinlich zu machen. Ob Evidenzen in einem Rechtsstreit verwendet werden, kann von den Interessen der Streitparteien abhängen. Jede Rechtsordnung kennt Regeln dafür, was als Beweis in einem Verfahren zulässig ist und welche Ermittlungsaufgaben z. B. einem Gericht zukommen.

Demgegenüber meint evidenzbasiertes Handeln, dass Entscheidungen und Vorgehensweisen – etwa in der Gesetzgebung – auf für Dritte zugängliche und nachvollziehbare Daten, deren wissenschaftliche Bearbeitung und die daraus gezogenen Erkenntnisse gestützt werden. Ein Kriterium können große und verlässliche Datensammlungen sein, die für statistische Auswertungen und Modellierungen zur Verfügung stehen. Auf diesen Grundlagen formulieren etwa die EU-Kommission oder die OECD Empfehlungen für die Entwicklung politischer Maßnahmen.

Evidenzbasierung soll eine umfassende Entscheidungsbasis schaffen, die Unsicherheiten deutlich macht, Vor- und Nachteile aufzeigt und mit wissenschaftlichen Methoden überprüft werden kann. Sie unterscheidet sich z. B. von Beweisen in Gerichtsverfahren, die zur Unterstützung einer Position vorgebracht werden und anderes ausklammern (vgl. Paul 2019).

Warum wird evidenzbasierte Politik gefordert?

Politische Prozesse und Recht werden traditionell als autonom verstanden (vgl. für Österreich Jakab 2021, 51) . Damit ist gemeint, dass bei beiden Bewertungen und Entscheidungen unabhängig von anderen Bereichen getroffen werden. Vertreter:innen anderer Bereiche, z. B. Wissenschaftler:innen, oder deren Methoden können nur dann einbezogen werden, wenn sich Politiker:innen dazu entscheiden oder wenn rechtliche Verfahren es vorsehen.

In Sozialstaaten besteht aber gleichzeitig die Erwartung, dass staatliche Leistungen professionell erbracht und nicht von politischen Konflikten beeinflusst werden. Diese Erwartung tritt in Wissensgesellschaften verstärkt auf. In diesen werden zunehmend anspruchsvollere Technologien eingesetzt, und Wertschöpfung sowie Arbeitsplätze verlagern sich in den wissensintensiven Dienstleistungssektor. Das führt dazu, dass in öffentlichen Debatten vergleichbare Erwartungen an Politik und Verwaltung gestellt werden.

Demgegenüber wird eingewandt, dass Politik nicht auf die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse beschränkt werden kann. Politisches Handeln ist durch persönliche und politische Erfahrungen und Werte geprägt. Es soll soziale Umstände in Betracht ziehen. Es soll möglichst viele Menschen erreichen, von denen nicht angenommen werden kann, dass sie wissenschaftlichen Debatten folgen können oder Zeit dafür haben. Schließlich müssen politische Entscheidungen oft rasch getroffen werden (siehe dazu Boaz et al. 2019).

In dieser Situation können die Überlegungen des Philosophen Karl Popper Lösungsansätze bieten. Popper befasste sich kritisch mit Idealvorstellungen in Wissenschaft und Politik und plädierte für ein schrittweises Vorgehen in beiden Bereichen sowie für die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und aus Fehlern zu lernen. Entscheidend ist demnach, eine konstruktive, inhalts- und ergebnisoffene Herangehensweise zu entwickeln und dabei politische und institutionelle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.

Popper formulierte seine Ideen im Interesse der Verteidigung einer liberalen Demokratie und zeigte auf, dass Problemlösung Pluralität und Diskussion voraussetzt. Wissenschaft und Demokratie hängen für ihn daher eng zusammen. Wissenschaftsskepsis kann zur Gefahr für Demokratie werden, ebenso wie Demokratieskepsis wissenschaftliche Tätigkeit infrage stellen kann.

Wie kann evidenzinformierte Gesetzgebung funktionieren?

Angesichts der vielen Faktoren, die die Vorbereitung von Gesetzen bestimmen, wird zunehmend von evidenzinformierter Politik bzw. Gesetzgebung gesprochen. Das meint, dass Entscheidungen nicht allein auf Evidenzen basieren, sondern weitere Gesichtspunkte miteinbezogen werden sollen. Damit das gewährleistet wird, können Vorgaben für die Erarbeitung von Gesetzentwürfen definiert werden. Diese sollen sicherstellen, dass Evidenzen Eingang in die vorgeschlagenen Lösungswege finden (Karpen/Xanthaki 2017).

So sind z. B. für die Erarbeitung von Gesetzentwürfen Folgenabschätzungen zentral. Mit ihnen sollen möglichst alle positiven und negativen Effekte neuer staatlicher Regulierungen (einschließlich Alternativen) systematisch geprüft werden. International werden Folgenabschätzungen als Regulatory Impact Assessment bezeichnet und in vielen OECD-Mitgliedstaaten angewandt.

Die Begutachtung von Gesetzentwürfen soll eine breite Debatte über diese sicherstellen und eine Beurteilung aus vielen verschiedenen Perspektiven ermöglichen. Alternativ können für eine solche Prüfung auch Expert:innengremien vorgesehen werden. Eine weitere Möglichkeit ist das Monitoring von Gesetzentwürfen durch wissenschaftliche Dienste von Parlamenten und Budgetdiensten.

Parlamentsdebatten (v. a. in Ausschüssen) bieten die Chance, neben Expert:innenwissen auch Erfahrungswissen als eine Form von Evidenz in politische Prozesse einzubringen. Der direkten Begegnung von Politiker:innen mit Expert:innen und Praktiker:innen kommt ein hoher Stellenwert zu. Sie wird als Möglichkeit gesehen, unmittelbare Einblicke in einen Problembereich zu erlangen (Geddes 2023). Das ist auch ein wichtiges Element von Beteiligungsprozessen (siehe das Fachdossier Partizipative Prozesse und die politische Entscheidungsfindung).

Die systematische Evaluierung der Umsetzung und Anwendung von Gesetzen ermöglicht es schließlich, die Wirkungen von Maßnahmen zu überprüfen und neue Erkenntnisse für Änderungen und Verbesserungen zu gewinnen. Studien (z. B. Brenner/Fazekas 2021) zeigen, dass so stabilere Gesetze entstehen können, die in weiterer Folge weniger oft geändert werden (müssen).

Um die Beziehungen zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung besser gestalten zu können, hat die Österreichische Akademie der Wissenschaften im Februar 2023 die Wiener Thesen zur wissenschaftsbasierten Beratung von Politik und Gesellschaft formuliert: Wissenschaft soll als „seriöse Vermittlerin“ auftreten, die der Politik Entscheidungsalternativen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz aufzeigt. Sie soll die Politik unterstützen, ihre Entscheidungen selbstständig zu begründen.

Können Gerichte evidenzinformierte Gesetzgebung prüfen?

Wenn konkrete Vorgaben für die Durchführung von Gesetzgebungsverfahren bestehen, dann können sie auch gerichtlich überprüft werden. Ausgangspunkt dafür ist, dass eine Verfassung demokratische Entscheidungsprozesse sichert, die es allen Beteiligten ermöglichen, ihre Verantwortung in gut informierter Weise wahrnehmen zu können. Dieser Anspruch wird in der Rechtswissenschaft als prozedurale Rationalitätsanforderung bezeichnet (Steinbach 2017, 163 ff.).

Entscheidungen verschiedener Höchstgerichte unterstreichen diesen Anspruch. So sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Änderung von Grundrechtsbestimmungen als unzulässig an, wenn sie ohne parlamentarische Debatte erfolgt (EGMR 6.10.2005, Hirst/UK, 74025/01). Ebenso kann eine gesetzliche Maßnahme unzulässig sein, wenn sie in Grundrechte eingreift und keine Studien zu ihrer Begründung vorgelegt werden können (EGMR 19.2.2013, X/Austria, 19010/07). Der Europäische Gerichtshof prüft regelmäßig, ob Wirkungsfolgenabschätzungen durch die Kommission in ausreichender Weise erfolgt sind (z. B. EuGH 21.6.2018, Rs C-5/16 Polen/Parlament und Rat).

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zu „Hartz IV“ (Arbeitslosengeld) und zur Parteienfinanzierung in Deutschland betont, dass der Gesetzgeber eine Pflicht habe, Berechnungsmethoden offenzulegen (BVerfGE 125, 175 und BVerfG 24.1.2023, 2 BvF 2/18). Im „Klima-Beschluss“ hat das Gericht festgehalten, dass das Grundgesetz darauf vertraue, dass „der öffentliche Diskurs im parlamentarischen Verfahren [...] Gewähr für eine [...] ausreichende Tatsachengrundlage“ biete (BVerfGE 24.3.2021, 1 BvR 2656/18): Auch wenn keine ausdrückliche Pflicht zur Sachaufklärung bestehe, müsse der Gesetzgeber – vor allem im Hinblick auf Grundrechte – Entscheidungen „auf hinreichend fundierte Kenntnisse von Tatsachen und Wirkzusammenhängen“ stützen (Rn. 240).

Auch der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) kann prozedurale Anforderungen prüfen. Das geschah bislang allerdings nur zu Verordnungen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie, weil diese der Verwaltung große Entscheidungsspielräume eröffneten. Beginnend mit dem Erkenntnis VfSlg. 20398/2020 vom 14. Juli 2020 hat der VfGH betont, dass in solchen Fällen die „maßgeblichen Umstände entsprechend ermittel[t] und [...] nachvollziehbar fest[ge]halten“ werden müssen (siehe dazu das Fachdossier COVID-19: Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes 2020). Zu Gesetzen hat sich der VfGH bislang noch nicht in dieser Weise geäußert.

Gibt es Regeln für evidenzinformierte Gesetzgebung in Österreich?

Das Bundes-Verfassungsgesetz sieht in den Artikeln 41 und 44 B-VG nur formelle Kriterien für die Einbringung von Gesetzentwürfen vor. Gesetzentwürfe müssen z. B. keine Begründung umfassen. In der Rechtswissenschaft wird daher der Standpunkt vertreten, dass in Österreich evidenzinformierte Gesetzgebung nicht vorgeschrieben sei (Lienbacher 2012). Die Juristin Teresa Weber betont hingegen, dass es sehr wohl Ansätze dafür gibt, die jedoch kaum genutzt werden (Weber 2023): Sie finden sich in der Verpflichtung zur Durchführung einer Wirkungsfolgenabschätzung (WFA), die Teil der wirkungsorientierten Steuerung der Verwaltung ist.

Der Grundsatz der Wirkungsorientierung folgt aus Art. 51 Abs. 8 Bundes-Verfassungsgesetz und § 2 Abs. 1 Bundeshaushaltsgesetz (BHG). § 17 BHG verpflichtet die Bundesregierung, grundsätzlich für jedes Regelungsvorhaben eine WFA durchzuführen. Für Initiativen von Abgeordneten besteht eine solche Pflicht nicht.

In der WFA sind finanzielle, wirtschafts-, umwelt- und konsumentenschutzpolitische und soziale Auswirkungen sowie die Gleichstellung von Männern und Frauen zu berücksichtigen. Ebenso sind Auswirkungen auf die Verwaltungskosten für Bürger:innen und Unternehmen zu prüfen. Diese werden im Vorblatt einer Regierungsvorlage dargestellt. Allerdings bestimmt § 10a WFA-Grundsatz-Verordnung, dass eine stark vereinfachte Folgenabschätzung ausreichen kann. Das trifft zu, wenn Regelungsvorhaben keine wesentlichen Auswirkungen auf die genannten Wirkungsdimensionen haben. Ebenso reicht eine vereinfachte WFA, wenn die finanziellen Auswirkungen bestimmter Maßnahmen unter EUR 20 Mio. bleiben.

Die WFA wird nicht zum Teil des Gesetzentwurfs. Das heißt, sie kann vom Nationalrat im Gesetzgebungsverfahren nicht überarbeitet werden. Umgekehrt heißt das, dass im Fall der Änderung des Gesetzentwurfs im Parlament auch keine Anpassung der WFA erfolgt, welche eine Neubewertung ermöglichen würde.

Die Angaben in der WFA können vom Budgetdienst des Parlaments geprüft werden. Die Berichte über die Wirkungsorientierte Folgenabschätzung, die Wirkungen von Regierungsmaßnahmen evaluieren, werden vom Budgetdienst genau analysiert. Dieser weist regelmäßig auf die großen Qualitätsunterschiede in der WFA hin.

Der VfGH hat sich erst einmal mit der WFA befasst. Im Rahmen der Prüfung der Reform der Sozialversicherungsträger 2019 betonte er, dass einer WFA keine Rechtswirkung zukomme. Daher könne z. B. eine mangelhafte WFA keine Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes begründen (VfSlg. 20361/2019).

Begutachtungsverfahren können in Österreich nur eingeschränkt als Ansatz für evidenzinformierte Gesetzgebung gelten, da Auswertung und Behandlung der Stellungnahmen nicht geregelt sind (siehe das Fachdossier Wie funktionieren Begutachtungsverfahren zu Gesetzentwürfen?).

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