Politik der Straße

Obwohl die Parteien auf parlamentarischer Ebene noch zu Kompromissen finden, verhärten sich die Fronten zwischen den einander zunehmend feindlich gegenüberstehenden politischen Lagern. Auf die antiparlamentarische Rhetorik der Rechten reagiert die Linke mit Verbalradikalismus.  

Bürgerblock gegen Arbeiter:innenpartei

Christlichsoziale, Großdeutsche und rechte Kleinparteien bilden für die Nationalratswahl 1927 einen "antimarxistischen" Bürgerblock, um einen möglichen Wahlsieg der Sozialdemokrat:innen zu verhindern. Die Sozialdemokrat:innen haben zuvor im Linzer Parteiprogramm 1926 die Strategie für den von ihnen erhofften Machtwechsel festgelegt.

In einem Klima wachsender Spannungen zwischen den Parteien und schwindenden Vertrauens in die parlamentarische Demokratie steigt bei vielen Anhänger:innen und Funktionär:innen der Parteien die Bereitschaft, politische Entscheidungen auch mit Gewalt zu erzwingen.

Bewaffnete Wehrverbände, die auf militärische Formationen der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgehen, gewinnen an Einfluss. Sie beherrschen die politische Auseinandersetzung auf der Straße. Mit Drohgebärden wie Aufmärschen, Waffenübungen und gezielten Provokationen demonstrieren sie gegenüber dem politischen Gegner Stärke und Entschlossenheit.

Steigende Gewaltbereitschaft

Heimwehren und Frontkämpfer, die eng mit dem bürgerlichen Lager verbunden sind, richten ihre Aktivitäten gegen den "Marxismus" als vermeintlichen inneren Feind.

Der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund übt sich in "proletarischer Wehrhaftigkeit" zur Verteidigung der Republik gegen einen möglichen Angriff von rechts.

In Verbindung mit einer radikalen politischen Sprache schürt die zunehmende Gewaltbereitschaft bei der Bevölkerung die Erwartung, dass politische Konflikte notfalls außerparlamentarisch gelöst würden.

Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927

Am 15. Juli 1927 kommt es zur Revolte: Demonstrant:innen aus den Arbeiter:innenbezirken Wiens wollen vor dem Parlament aufmarschieren und werden dann von der Polizei in Richtung Justizpalast abgedrängt. Sie protestieren gegen ein Gerichtsurteil, das sie als Ausdruck der "Klassenjustiz" empfinden.

Ein Geschworenengericht hatte Mitglieder der Frontkämpfervereinigung freigesprochen, die auf Teilnehmer:innen einer Veranstaltung des Republikanischen Schutzbundes, des sozialdemokratischen Wehrverbandes, in Schattendorf im Burgenland geschossen haben. Ein Mann und ein Kind waren gestorben, mehrere Menschen verletzt worden.

Proteste und Polizeieinsätze

Die Polizei drängt die Demonstrant:innen weg vom Parlament. Diese versuchen nun, sich vor dem Justizpalast zu versammeln. Als die Polizei mit großer Härte gegen die Protestierenden vorgeht, eskaliert die Auseinandersetzung. Aufgebrachte Demonstrant:innen stürmen den Justizpalast und setzen das Gebäude in Brand. Die Polizei eröffnet das Feuer auf die Menge: 89 Menschen sterben und mehr als 600 Personen werden schwer verletzt.

Originalaufnahmen der Ereignisse zeigt der Film "Der Brand des Justizpalastes in Wien": das Hinauswerfen von Akten, den Polizeieinsatz, die Löschversuche.

Die sozialdemokratische Partei scheitert mit dem Versuch, den spontanen Protest zu nutzen, um einen Regierungswechsel zu erwirken. Auch der für den nächsten Tag ausgerufene Generalstreik ist erfolglos: Heimwehr-Einheiten in Tirol und der Steiermark gelingt es, den Streik zu brechen.

Aufarbeitung im National­rat

In der Nationalratsdebatte über die Ereignisse vom 15. Juli 1927 kommt deutlich die wachsende Kluft zwischen den Parteien zum Ausdruck. Der damalige Bundeskanzler Ignaz Seipel fordert die Abgeordneten auf, nichts zu verlangen, "das den Opfern und den Schuldigen an den Unglückstagen gegenüber milde erscheint, aber grausam wäre gegenüber der verwundeten Republik".

Die sozialdemokratische Opposition reagiert mit einem Misstrauensantrag gegen die Regierung und fordert Amnestie für die Verhafteten und einen Untersuchungsausschuss. Die spontane Erhebung ihrer Anhänger:innen führt zu einem deutlichen Prestigeverlust, während sich die Rechte ermutigt fühlt, ihre Angriffe auf die parlamentarische Demokratie weiter zu verschärfen.

Bundeskanzler Seipel macht kein Hehl aus seiner Sympathie für eine "wahre Demokratie" mit "mehr Verantwortlichkeit der Führer der Demokratie" anstelle der so bezeichneten "Parteiendiktatur".

Einigung auf Verfassungsreform

1920 haben sich die Parteien im letzten Moment auf eine Verfassung geeinigt. Viele Fragen sind offen geblieben, und mit vielen Regelungen sind die Parteien schon bald unzufrieden.

Die christlichsoziale Regierung unter Bundeskanzler Ignaz Seipel und die Großdeutsche Partei streben ab 1927 eine Verfassungsreform an. Aus ihrer Sicht liegt der Grund für die Instabilität der Verhältnisse in Nationalrat und Bundesregierung im radikalen Parlamentarismus der Bundesverfassung von 1920. Mit der Stärkung der Staatsgewalt gegenüber der Volksvertretung wollen sie die Unwägbarkeiten der Parteiendemokratie entschärfen und Stabilität gewinnen.

Die sozialdemokratische Opposition lehnt den Vorschlag ab, weil sie eine Entmachtung des Parlaments durch ein autoritäres Präsidialsystem befürchten: Rechte Gruppierungen wie die Heimwehren finden mit dem Drängen auf "Beseitigung der Parlamentsherrschaft" zunehmend Gehör bei den bürgerlichen Parteien. Für die Abänderung der Verfassung ist eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig und die sozialdemokratische Opposition verfügt über eine Sperrminorität.

Die Regierung muss einen Kompromiss suchen. Am 7. Dezember 1929, nach intensiven Verhandlungen zwischen der Regierungsmehrheit und Opposition, beschließt der Nationalrat die Verfassungsnovelle.

Der damalige Bundeskanzler Johannes Schober bezeichnet die Novelle als "Friedenswerk", das beide Seiten als Erfolg für sich in Anspruch nehmen können: Die bürgerlichen Parteien, weil nun ein vom Volk direkt gewählter Bundespräsident vorgesehen und die Regierung nicht mehr vom Parlament zu wählen, sondern vom Staatsoberhaupt zu ernennen und zu entlassen ist; die sozialdemokratische Partei, weil der Bundespräsident weit weniger Machtbefugnisse hat, als von der Rechten gefordert. Will er den Nationalrat auflösen, werden Neuwahlen innerhalb einer bestimmten Frist ausgeschrieben.

Trotz der Reform bleiben das Parlament und die politischen Parteien die entscheidenden Instanzen für das Regieren.

Staatsfeiertag 12. November – umstrittener Gedächtnisort

Je stärker sich die Rechte mit antiparlamentarischer Rhetorik profiliert, desto mehr sieht sich die Linke als Verteidigerin der Republik. Symbolisch dafür steht das sozialdemokratische Erinnerungsritual an den Jahrestagen der Republikgründung.

Den 12. November, der bereits wenige Monate nach der Ausrufung der Republik von der Provisorischen Nationalversammlung einstimmig zum Nationalfeiertag erhoben worden war, feiert die sozialdemokratische Partei traditionell als einen Tag des Gedenkens an die eigenen politischen Leistungen.

Die anderen Parteien können sich weniger mit diesem Tag identifizieren, wenngleich bei den offiziellen staatlichen Feiern stets positive Bilanzen zur Entwicklung des Staates gezogen werden.

Politisch Resümee ziehen

So auch von Wilhelm Miklas, dem Präsidenten des Nationalrates und späteren Bundespräsidenten, bei der Festsitzung des Nationalrates zum zehnten Jahrestag der Republikgründung am 12. November 1928. In Bezug auf die Inflationskrise betont er:

"Dass damals und in der Folgezeit die vorhandenen politischen Gegensätze oftmals in sehr scharfer Form in Erscheinung traten, soll nicht geleugnet werden. Dass aber daraus dem Bunde kein dauernder Schaden erwuchs, vielmehr trotz des heftigen Aufeinanderprallens der Parteimeinungen reiche positive Arbeit im Dienste des Wiederaufbaues geleistet wurde, mag als Beweis für die unleugbare innere Festigung unseres Staatswesens angesehen werden."

Anerkennend äußert er sich auch über die, trotz großer Parteiengegensätze, erfolgreiche gesetzgeberische Arbeit des Nationalrats: "Es waren nicht immer sonnige Tage, die dem Nationalrat beschieden waren. Aber auch die schwersten Kämpfe und die stärksten Parteigegensätze vermochten die gesetzgeberische Arbeit nie völlig lahmzulegen." Thema der offiziellen Ansprachen ist auch die von den bürgerlichen Parteien angestrebte Korrektur der Verfassung in Richtung eines Präsidialsystems.

Sozialdemokratisches Denkmal

Die sozialdemokratische Opposition demonstriert währenddessen mit einer Massenkundgebung mit mehr als 250.000 Teilnehmer:innen vor dem Parlament Republiktreue.

Die Stadt Wien, in ihrer Politik das "rote" Gegenmodell zum von der christlichsozialen Partei dominierten "schwarzen" Bund, hat aus Anlass des Republikjubiläums ein Denkmal in Auftrag gegeben, das in unmittelbarer Nähe des Parlaments aufgestellt und am 12. November 1928 feierlich eröffnet wird.

Die Büsten zeigen die Sozialdemokraten Victor Adler, Ferdinand Hanusch und Jakob Reumann, jedoch keine Repräsentanten der anderen an der Republikgründung beteiligten Parteien.

Der Anfang vom Ende der Demokratie

Die Heimwehren antworten auf die sozialdemokratischen Republikfeiern, die bundesweit stattfinden, mit Aufmärschen gegen das "Rote Wien", gegen Republik und Demokratie.

Fünf Jahre später beendet das autoritäre Regime unter Engelbert Dollfuß die Demokratie in Österreich.

Bis heute gilt das mit Kruckenkreuzfahnen – dem Zeichen des autoritären "Bundesstaats Österreich" und der Einheitspartei Vaterländische Front – verhüllte Monument als bildliches Zeugnis des Endes der Demokratie.