Fachinfos - Fachdossiers 23.09.2024

Wie barrierefrei ist die Nationalratswahl 2024?

Am 29. September 2024 findet in Österreich die Nationalratswahl (NR-Wahl) statt. Die amtlichen Wahlinformationen, die den Wähler:innen vor der Wahl zugeschickt werden, weisen besonders darauf hin, ob das jeweils zuständige Wahllokal barrierefrei erreichbar und mit einer barrierefrei benutzbaren Wahlzelle ausgestattet ist. Wie schon bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 wird vielen Wähler:innen vor allem eine einfachere Zugänglichkeit der Wahllokale auffallen. Diese Entwicklungen sind wichtig, dürfen aber nicht überdecken, dass auf sehr viel mehr Ebenen Hindernisse aus dem Weg zu räumen sind, um dem Anspruch einer Demokratie gerecht zu werden, dass allen (wahlberechtigten) Menschen derselbe Zugang zu Wahlen zu ermöglichen ist.

Das vorliegende Fachdossier gibt einen Überblick über rechtliche Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit Barrierefreiheit für die bevorstehende Wahl, listet Herausforderungen für barrierefreies Wählen auf und verweist auf Initiativen, die sich diesen Herausforderungen widmen.

Umfassende Teilhabe am politischen Leben

Damit Menschen gleichberechtigt am demokratischen Prozess teilhaben können, reicht es nicht aus, dass sie ein Kreuzerl am Wahlzettel machen können (siehe die Informationen der Parlamentsdirektion im Rahmen der Initiative #MehralseinKreuzerl). Sie müssen umfassend am öffentlichen und politischen Leben teilhaben und dafür ein Interesse entwickeln bzw. sich informieren können. Sie müssen auch repräsentiert werden bzw. sich selbst repräsentieren können. Und sie müssen letztlich unbeeinflusst an der Wahl teilnehmen können.

Dennoch haben sich wissenschaftliche Studien und Berichte von internationalen Organisationen oder Organisationen der Zivilgesellschaft lange Zeit nur auf den Wahlvorgang selbst konzentriert. Anderen Aspekten wurde wenig Beachtung geschenkt. Das betrifft etwa die Mitgliedschaft in Parteien oder die Teilnahme an Wahlen als Kandidat:innen, Wahlhelfer:innen und Kampagnenmitarbeiter:innen (Prince 2007). Nur eine Einbindung auf allen diesen Ebenen erfüllt den oben formulierten demokratiepolitischen Anspruch, u. a. weil dadurch politisches Interesse geweckt und eine Verbindung zum politischen System hergestellt wird.

Dennoch kann die Wahlbeteiligung von Menschen mit besonderen Bedürfnissen auch als Indikator dafür verstanden werden, wie sehr dieser umfassende Anspruch erfüllt wird. Wie ein Überblick über die wissenschaftliche Forschung zur Wahlbeteiligung dieser Gruppe (neben Menschen mit Behinderungen z. B. auch Personen mit geringer Alphabetisierung und Obdachlose) schon vor über 15 Jahren zeigte (vgl. Prince 2007), bestehen nicht "nur" technische, physische, organisatorische und formale Hürden. Darüber hinaus muss sich v. a. auch die öffentliche Einstellung zur Partizipation von Menschen mit Behinderungen am gesamten Wahlprozess ändern (für einen Überblick siehe den nächsten Abschnitt). Einzelne Analysen zeigen, dass diesbezüglich kein Stillstand herrscht (siehe z. B. FRA 2024). Allerdings deutet der größere Teil aktueller internationaler Literatur sehr eindeutig darauf hin, dass es bei der Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an Wahlen immer noch Aufholbedarf gibt (Kuhlmann et al. 2022, Van Hees et al. 2019; betr. Sichtbarkeit in der politischen Arena generell siehe z. B. PACE 2017).

Der Wahlprozess: Mehr als nur ein Tag

Die Möglichkeit der Briefwahl, einfacher zugängliche Wahllokale und barrierefreie Informationen über den Wahltag sind wichtig. Um die eben angesprochene umfassende Teilhabe zu gewährleisten, müssen aber auch Abläufe berücksichtigt werden, die Teil der Vor- sowie der Nachbereitung einer Wahl sind. Basierend auf verschiedenen Publikationen (vgl. IDEA 2017; Lord u. a. 2014) ergibt sich ein sehr viel umfassenderes Bild mit den folgenden drei Phasen, die mit Blick auf die Barrierefreiheit zu berücksichtigen sind:

Vorwahlphase:

  • Planung der Wahl
  • Training und Ausbildung für den Wahltag (z. B. von Wahlkommissionen und Wahlbeobachter:innen)
  • Information (über die Wahl) und Registrierung (in Österreich ist keine Registrierung erforderlich; Anm.)

Wahlphase:

  • Nominierung von Kandidat:innen
  • Wahlkampagnen der Parteien bzw. Kandidat:innen
  • Wählen

Nachwahlphase:

  • Evaluation (z. B. auch Wahlbeschwerdeverfahren)
  • Mögliche Anpassungen und Reformen
  • Strategische Planung (für die nächste Wahl)

In jeder dieser Phasen existieren potenziell Hürden, die einer vollumfänglichen barrierefreien Teilhabe am politischen Prozess (noch) entgegenstehen. Aufgrund der zeitlichen Nähe zur NR-Wahl fokussiert das vorliegende Fachdossier allerdings nur auf das Wählen selbst.

Rechtliche Rahmenbedingungen für die NR-Wahl

Die wesentlichen rechtlichen Grundlagen für die NR-Wahl finden sich im Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und in der Nationalrats-Wahlordnung (NRWO) (siehe dazu auch die Informationen des Parlaments zu Grundsätzen des Wahlrechts).

Das Recht auf Wählen (aktives Wahlrecht) und das Recht, gewählt zu werden (passives Wahlrecht), ist in verschiedenen Artikeln des B-VG verankert. Für die NR-Wahl ist dies Art. 26 B-VG. Hier sind das gleiche, unmittelbare, persönliche, freie und geheime Wahlrecht von Männern und Frauen verankert, die am Wahltag das 16. Lebensjahr vollendet haben (Art. 26 Abs. 1 B-VG). Außerdem ist hier auch geregelt, dass von den Wahlberechtigten wählbar ist, wer am Stichtag die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt und am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat (Art. 26 Abs. 4 B-VG). Der Ausschluss vom Wahlrecht oder von der Wählbarkeit kann laut Art. 26 Abs. 5 B-VG "nur durch Bundesgesetz als Folge rechtskräftiger gerichtlicher Verurteilung" vorgesehen werden. Abgesehen davon ist das Wahlrecht an keine weiteren Voraussetzungen gebunden. Es kann also auch kein gesetzlicher Ausschluss vom Wahlrecht auf Basis einer generellen Beurteilung kognitiver Fähigkeiten durch andere erfolgen, wie der Verfassungsgerichtshof zuletzt 1987 entschieden hat (VfSlg. 11.489/1987; Details zum Kontext des Falles siehe Naue/Wegscheider 2015). In anderen Staaten ist das noch der Fall (siehe FRA 2024, S. 11f; siehe auch zwei Auswertungen des RLW zur Judikatur des EGMR: Wahlrechtsausschluss von geschäftsunfähigen Personen und Wahlrechtsausschluss geschäftsunfähiger Personen).

Auch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in Österreich in Verfassungsrang steht, sieht ein (Grund-)Recht auf freie Wahlen vor, das ein aktives und passives Wahlrecht umfasst (Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Menschenrechtskonvention). Außerdem garantiert Art. 8 des Staatsvertrags von Wien allen Staatsbürger:innen ein freies, gleiches und allgemeines Wahlrecht. Die näheren Vorschriften für die Abhaltung der NR-Wahl sind in der Nationalrats-Wahlordnung (NRWO) festgelegt (mehr Details siehe unten).

Die UN-BRK wurde von Österreich 2008 ratifiziert. Die darin verankerten Rechte sind von Österreich durch entsprechende Gesetze bzw. bei der Anwendung bestehender Gesetze sicherzustellen. Art. 29 UN-BRK sichert Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die wirksame und umfassende Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben, darunter auch das Recht, zu wählen und gewählt zu werden, zu. Insbesondere müssen Wahlverfahren, -einrichtungen und -materialien geeignet, barrierefrei und leicht zu verstehen und zu handhaben sein. Die Nutzung unterstützender und neuer Technologien (wie z. B. Stimmzettel-Schablonen; s. u.) ist gegebenenfalls zu erleichtern. Menschen mit Behinderungen müssen frei ihren Willen äußern können. Zu diesem Zweck müssen sie sich im Bedarfsfall auf eigenen Wunsch bei der Stimmabgabe durch eine Person ihrer Wahl unterstützen lassen können.

Die NRWO enthält eine Reihe von spezifischen Bestimmungen, welche die Ausübung des Wahlrechts für Menschen "mit Körperbehinderungen, Sinnesbehinderungen oder kognitiven Behinderungen" (§ 66 Abs. 1) ermöglicht. Erst mit der NRWO-Novelle 2023 im Zuge des Wahlrechtsänderungsgesetzes 2023 stellte der Gesetzgeber – laut Gesetzesmaterialien im Sinne einer zeitgemäßen Terminologie – klar, dass Menschen mit kognitiven Behinderungen jedenfalls auch erfasst sind. Wie Stein u. a. (2024, § 66 NRWO, Rz 3) ausführen, wurden diese bis dahin nur "über den interpretativen ‚Umweg‘ der ‚Sinnesbehinderung‘ erfasst". Bestimmte Regelungen gelten für "blinde und schwer sehbehinderte Wähler (sic!)" (siehe z. B. § 39 Abs. 4).

Für alle Wähler:innen gilt, dass die Stimmabgabe auf einem amtlichen Stimmzettel entweder im Wahllokal oder via Briefwahl zu erfolgen hat. Um allen Wahlberechtigten die Stimmabgabe zu ermöglichen, gibt es mehrere unterstützende Möglichkeiten. Dazu zählen der Besuch durch die "fliegende Wahlkommission", die Einrichtung von "besonderen Wahlsprengeln", also Wahllokalen in z. B. Pflegeanstalten oder Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen (§ 72), die Möglichkeit, vorgezogen zu wählen (§ 40 Abs. 5), und die Möglichkeit, die Wahlzelle mit einer Begleitperson aufzusuchen (§ 66). Außerdem sind für Wähler:innen mit kognitiven Behinderungen die schriftlichen Informationen über den Wahlvorgang in leicht lesbarer Form herzustellen, es sind bestimmte Mindestschriftgrößen festgelegt und für blinde oder schwer sehbehinderte Menschen müssen ausreichend Stimmzettel-Schablonen zur Verfügung stehen bzw. Wahlkarten-Schablonen ausgefolgt werden (siehe z. B. hier: Stimmabgabe). Mit dem Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 wurden darüber hinaus die seit 1998 bestehenden Vorgaben zur baulichen Barrierefreiheit von Wahllokalen ausgebaut. Möglichst viele Wahllokale sollen barrierefrei sein, zumindest aber muss in jedem Gebäude, in dem ein oder mehrere Wahllokale eingerichtet sind, ein Wahllokal für Menschen mit Behinderungen barrierefrei erreichbar sein (z. B. müssen geeignete Leitsysteme oder gleichwertige Lösungen für blinde und schwer sehbehinderte Wahlberechtigte vorhanden sein). Ab 1. Jänner 2028 muss jedes Wahllokal barrierefrei erreichbar sein (§ 52 Abs. 6).

Hindernisse und Initiativen für gleichberechtigte politische Teilhabe

Alle diese rechtlichen Regelungen sollen eine uneingeschränkte Teilnahme an Wahlen ermöglichen. Sie decken aber bei Weitem nicht alle Defizite in Bezug auf eine umfassende Teilhabe am politischen Leben ab. Publikationen wie die Guidelines on Promoting the Political Participation of Persons with Disabilities der OSCE (2019) arbeiten wesentliche Defizite heraus, die zu den bereits erwähnten physischen Hindernissen, zur unzulänglichen Kommunikation oder Information und zum rechtlich eingeschränkten Zugang zum oder gar Ausschluss vom Wahlprozess hinzukommen (OSCE 2019, S. 34 ff). Das Spektrum reicht von unzureichender Ausbildung des Personals rund um Wahlen (betreffend Umgang mit Wähler:innen mit besonderen Bedürfnissen) über unzureichende Möglichkeiten politischer Bildung bis hin zu oft vergleichsweise niedrigen Einkommen und Arbeitslosigkeit und der grundlegend fehlenden gesellschaftlichen Unterstützung für politische Partizipation von Menschen mit Behinderungen (oft auch innerhalb des privaten Umfelds). Mit Blick auf alle diese Hindernisse ist zu bedenken, dass diese für Menschen, die intersektional diskriminiert werden – also Benachteiligungen in mehreren Bereichen gleichzeitig zu spüren bekommen (z. B. Menschen mit Behinderung, die alleinerziehend sind) –, besonders schwer wiegen. 

Zumindest mit Blick auf die bevorstehende NR-Wahl und den hier im Zentrum stehenden unmittelbaren Wahltag hat es sich eine Reihe von Organisationen und Initiativen zur Aufgabe gemacht, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen, sie zielgruppengerecht zu informieren und letztendlich die gesellschaftliche Unterstützung zu erhöhen. Ausgewählte Beispiele in Bezug auf die bevorstehende NR-Wahl sind Informationen des Österreichischen Behindertenrates zur NR-Wahl allgemein bzw. zu Wahlprogrammen der im Nationalrat vertretenen Parteien auch in Einfacher oder Leichter Sprache oder die Informationen zum barrierefreien Wählen der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs.

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