Nationalitätenfrage

Parlamentarismus und Demokratie in der Monarchie

Mit der "Dezemberverfassung" ist die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des politischen Lebens im Österreich der Habsburger bis zum Zusammenbruch der Monarchie weitgehend abgeschlossen. Die Rolle und der Einfluss des Kaiserhauses sind geregelt. In beiden Reichshälften ist ein Parlament eingerichtet, das jeweils über eine wichtige Rolle in der Gesetzgebung verfügt. Die Monarchie ist noch keine Demokratie. Mit der stetigen Ausweitung des Wahlrechts und der Durchsetzung der Grundrechte durch die Gerichte entwickelte sich die österreichische Reichshälfte langsam in Richtung einer modernen Demokratie: 1873 wird die Direktwahl des Abgeordnetenhauses eingeführt. Die folgenden Jahrzehnte sind durch intensive Kämpfe um das Wahlrecht geprägt. 1907 gelingt es endlich, das Wahlrecht für alle männlichen Bürger der österreichischen Reichshälfte durchzusetzen. Im Zuge der Wahlrechtsreformen steigt die Anzahl der Mitglieder des Abgeordnetenhauses von 203 im Jahr 1867 auf 516 im Jahr 1907.

Die ersten Wahlen zum Abgeordnetenhaus

Der Reichsrat besteht aus zwei Kammern: dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus. Die Mitglieder des Herrenhauses werden vom Kaiser ernannt. Die Bestellung der Mitglieder des Abgeordnetenhauses erfolgt zunächst durch die Landtage.

Erst 1873 wird die (weitgehend) direkte Wahl der Abgeordneten eingeführt. Damit werden die Landtage geschwächt. Sie haben bis dahin bestimmen können, ob sie Abgeordnete in den Reichsrat schicken wollen oder nicht. Jetzt kann es zumindest ein Teil der Bürger:innen selbst bestimmen.

Das Wahlrecht ist nicht allgemein – es kann nicht jede:r an der Wahl teilnehmen. Es ist kein gleiches Wahlrecht, die Stimmen verschiedener Wähler:innengruppen werden unterschiedlich gezählt. Dafür gibt es vier Kurien:

  • Großgrundbesitz,
  • Städte, Märkte, Industrieorte,
  • Handels- und Gewerbekammern und
  • Landgemeinden.

Das Wahlrecht in den Kurien ist an das Erreichen eines bestimmten Bildungsgrads oder eine bestimmte direkte Steuerleistung gekoppelt. Das wird auch als Zensuswahlrecht bezeichnet. Interessant ist dabei, dass die Stimmberechtigung nicht unbedingt an das Geschlecht gekoppelt ist. Erbringt also eine Frau die nötige direkte Steuerleistung, so kann sie über einen Vertreter oder einen Bevollmächtigen wählen. Die Kurie der Landgemeinden wählt ihre Abgeordneten weiterhin indirekt durch Wahlmänner.

Der Einfluss der einzelnen Kurien auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses ist sehr unterschiedlich: Weniger als 5.000 Großgrundbesitzer:innen (auch einzelne Frauen hatten das Wahlrecht) wählen 85 Abgeordnete, während für die knapp 18 Millionen Einwohner:innen der Landbezirke (von denen nur rund eine Million die nötige direkte Steuerleistung für das Stimmrecht erbringen kann) nur durch 131 Abgeordnete vertreten sind.

Die Modernisierung von Staat und Recht

In den Revolutionen von 1848 ist nicht nur eine Verfassung für das Kaiserreich gefordert worden. Es gab auch viele Vorschläge für die Modernisierung der Verwaltung, der Gerichte und der Wirtschaft. Noch im Jahr 1848 konnte die Befreiung der Bauern durchgesetzt werden. Auch nachdem die Revolution niedergeschlagen worden ist, und der Kaiser wieder uneingeschränkt herrscht, werden manche Reformprojekte fortgesetzt. Zu den wichtigsten zählen die Reform des Strafrechts und des Strafprozesses.

Als 1867 das Abgeordnetenhaus für die österreichische Reichshälfte geschaffen wird, bringen dessen Mitglieder viele Vorschläge für neue Gesetze ein. Vor allem die liberal gesinnten Abgeordneten wollen den Einfluss der katholischen Kirche auf Schule, Familie und Gesellschaft zurückdrängen. Ebenso stehen die Sprachenrechte von Anfang an auf der Tagesordnung. Der Zusammenbruch der Wiener Börse 1873 und die Turbulenzen in der österreichischen Industrie und in den Eisenbahngesellschaften machen es erforderlich, dass sich die beiden Kammern des Reichsrats mit Gesetzen zur Regelung der Wirtschaft und des Verkehrs befassen. Die Veränderungen in Industrie und Arbeitswelt führen dazu, dass auch in Österreich-Ungarn in den 1880er-Jahren Kranken- und Unfallversicherungsgesetze geschaffen werden.

Nationalitäten­konflikte lähmen das Abgeordnetenhaus

Im 19. Jahrhundert entstehen in ganz Europa Parlamente. Sie alle müssen sich neu organisieren, es müssen Verfahren und Abläufe entwickelt werden, und die Abgeordneten müssen ihre Rolle finden. Dafür gibt es kaum Vorbilder und nur wenig Unterstützung. Im Parlament gibt es eine Bibliothek, die 1869 gegründet worden ist. Die Abgeordneten müssen ihre Mitarbeiter selbst bezahlen. Es gibt noch keine rechtliche, organisatorische und fachliche Unterstützung, wie sie heute für Parlamente üblich ist.

Die Organisation des Abgeordnetenhauses (z. B. die Einberufung von Tagungen) ist in verschiedenen Gesetzen geregelt. 1873 einigen sich die Abgeordneten auf eine neue Geschäftsordnung, mit der das parlamentarische Verfahren organisiert werden soll. Sie ist allerdings von Anfang an lückenhaft und umstritten. Abgeordnete entdecken rasch, wie sie die Verfahrensregeln nutzen können, um Entscheidungen zu verzögern oder zu verhindern.

Das zeigt sich besonders in den Nationalitätenkonflikten, die ab den 1880er-Jahren das parlamentarische Geschehen dominieren und letztlich auch lähmen sollen. Im Reichstag von 1848 hat man sich noch bemüht, zu einer Verständigung zwischen den verschiedenen Völkern zu kommen. Nach dem Ausgleich mit Ungarn steigen die Spannungen wieder. Besonders die Tschechen fühlen sich benachteiligt. Deshalb boykottieren die tschechischen Abgeordneten aus Mähren den Reichsrat der Dezemberverfassung bis ins Jahr 1874, die tschechischen Vertreter Böhmens sogar bis 1879. Auch die Polen, Ruthenen und Südslawen (Slowenen, Kroaten) sind unglücklich mit der vorherrschenden Situation.

Das geltende Kurienwahlsystem bevorzugt die deutsche Bevölkerung in vielen Teilen des Reiches, besonders in Böhmen und Mähren. Die deutsche Mehrheit im Abgeordnetenhaus nutzt ihre Übermacht lange Zeit, um "den nationalen Besitzstand" – so die Diktion der Zeit – mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. In den 1890ern erstarkt die deutschnationale Fraktion spürbar.

Obstruktionen im Parlament

Umgesetzt oder auch nur angedachte Maßnahmen für oder gegen eine der Nationalitäten verursachen großen Wirbel in Staat und Parlament. Der parlamentarische "Kampf" der Völker im Abgeordnetenhaus führt immer öfter zu sogenannter Obstruktion: Gegner einer Maßnahme nutzen die Regeln der Geschäftsordnung aus, um stundenlang Anträge vorzulesen oder Abstimmungen zu verunmöglichen. Es gibt oft keine Redeordnung mehr und alles geht durcheinander. Abgeordnete blockieren Verhandlungen aber auch durch Lärmen, das Werfen von Tintenfässern oder Musizieren. Besonders berüchtigt sind die sogenannten "Pultdeckelkonzerte" – das lautstarke Auf- und Niederschlagen der Pultdeckel.

Manchmal werden Verhandlungen einer Session (Tagungsperiode des Abgeordnetenhauses) wegen Obstruktionen vorzeitig beendet. Sogar die Polizei führt in Folge von Obstruktion mehrere Abgeordnete rechtswidrig aus dem Sitzungssaal ab.

Eindrücke von einer solchen Sitzung beschreibt der amerikanische Autor Mark Twain in seinem Aufsatz "Stirring Times in Austria" (Bewegte Zeiten in Österreich) mit einer gewissen Faszination für das Geschehen. Er zeichnet darin ein treffendes Bild der damaligen Nationalitätenkonflikte und eines mangelnden parlamentarischen Verständnisses.

Diese Entwicklungen sind nicht auf Österreich beschränkt. In vielen Staaten der Welt versuchen die Parlamente, ihre Rolle zu finden. Das österreichische Beispiel wird in der ganzen Welt diskutiert. Überall versuchen die Regierungen, mehr Einfluss auf die Tätigkeit der Parlamente zu bekommen.

Der Kampf um das allgemeine Wahlrecht

Neben den Gesetzgebungsprojekten und den Konflikten über die Sprachenrechte gehen auch die Auseinandersetzungen über das Wahlrecht weiter. Die Ausweitung des Wahlrechts wird dabei von den Regierungsvertretern als Chance gesehen, manche politischen Konflikte zu entschärfen oder zu lösen.

1882 kommt es zur ersten Reform des Wahlrechts. Der Zensus wird für die gesamte österreichische Reichshälfte auf 5 Gulden direkte Steuerleistung festgesetzt. Zuvor war die für die Wahlberechtigung nötige Steuerleistung unterschiedlich geregelt: In Wien liegt diese bei 10, in Graz bei 15, in Prag bei 20 Gulden, in den Landgemeinden durfte jeder wählen, der 10 Gulden Steuerleistung erbrachte.

Eine fünfte Kurie und das allgemeine Wahlrecht für Männer

In dieser Zeit werden überall in der Monarchie politische Parteien im modernen Sinn gegründet: Sie haben den Anspruch, große Teile der Bevölkerung zu vertreten. Auf dem Gebiet des heutigen Österreichs sind das die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (zum Jahreswechsel 1888/89) und die Christlichsoziale Partei (1893). Damit werden die Forderungen nach Wahlrechtsreformen abermals stärker.

1896 fasst der Reichsrat den Beschluss, das Wahlrecht auszuweiten. Es wird eine fünfte Kurie der allgemeinen Wählerklasse geschaffen. In dieser haben alle Männer über 24 Jahren das Wahlrecht, sofern sie ein Jahr lang am selben Ort gewohnt haben. Die Ungerechtigkeiten des Zensus- und Kuriensystems kann diese Reform jedoch nicht ausgleichen: Die rund fünf Millionen Wahlberechtigten der fünften Kurie wählen nur 72 von 425 Reichsratsabgeordneten.

In den folgenden Jahren werden etliche Vorschläge für Wahlreformen diskutiert. Im Mittelpunkt stehen dabei die zentralen Fragen der Demokratie, nämlich die Gleichberechtigung aller Bürger:innen. Diese wird von vielen als Gefahr für die Stabilität des Staats und das Funktionieren der Regierung gesehen. Es dauert bis in den Spätherbst 1906, bis sich jene politischen Kräfte durchsetzen, die auf Reformen drängen. Im November 1906 können sie die dringliche Behandlung des Gesetzesvorhabens erreichen, das als Beck'sche Wahlrechtsreform bekannt werden soll. Am 1. Dezember 1906 fasst das Abgeordnetenhaus dann den Beschluss, das Privilegiensystem abzuschaffen. Ab 1907 gilt ein allgemeines, gleiches, direktes Wahlrecht für Männer. Die wenigen Frauen, die zuvor wählen durften, sind wieder von der Stimmabgabe an den Urnen ausgeschlossen.

Bewegung in der politischen Landschaft

Die Ausweitung des Wahlrechts macht sich in der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses bemerkbar. Als 1897 erstmals alle Männer in einer allgemeinen fünften Kurie wählen dürfen (die weniger als 20 Prozent der Gesamtmandate bestimmt), ziehen die ersten Sozialdemokraten und Christlichsozialen in das 1883 fertiggestellte neue Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße ein.

Auch das deutschnationale Lager kann stark zulegen. Bei der Wahl 1907 – der ersten mit allgemeinem und gleichem Männerwahlrecht – sind die Christlichsozialen zuerst zweitstärkste Partei und liegen nach dem Zusammenschluss mit den Katholisch-Konservativen als mandatsstärkste Einzelpartei vor den Sozialdemokraten. Das in verschiedene Gruppierungen zersplitterte deutschnationale Lager stellt die drittstärkste politische Kraft.

Keine Entspannung in Sicht

Die Hoffnungen von Kaiser und Regierung, dass durch das Aufkommen der Massenparteien eine Entspannung der Nationalitäten- und Sprachkonflikte einsetzen würde, wird enttäuscht: Die Christlichsozialen bleiben großteils eine rein deutsche Partei; die Sozialdemokraten, die den Anspruch des Internationalismus stellen, spalten sich nach den Wahlen 1907 in fünf Nationalitätenfraktionen unter einem Dach auf. 1911 bilden sie endgültig drei parlamentarische Klubs – getrennt nach deutschen, tschechischen und polnischen Abgeordneten.

Es gibt zahlreiche Anläufe auf einen Ausgleich mit den slawischen Nationalitäten, die in einigen Kronländern sogar gelingen sollen. Als Ausgleich werden im Habsburgerreich Verhandlungen und bindende Vereinbarungen bezeichnet, durch die die Organisation der Monarchie neu geordnet wird. Der erste Ausgleich hat 1867 mit Ungarn stattgefunden. Galizien erhält eine gewisse Autonomie; für Mähren kann 1905 ein Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen geschlossen werden.

Letztendlich scheitert das Parlament daran, ähnliche Regelungen für die gesamte österreichische Reichshälfte zu schaffen, auch wenn die genannten Beispiele immer wieder Hoffnung auf die Lösung der Nationalitätenkonflikte geben.