Nationalitätenfrage

Nach dem Ausgleichsjahr 1867 veränderte sich die politische Landschaft: Massenparteien zogen ins Parlament ein. Immer stärker zeichneten sich Nationalitätenkonflikte im Vielvölkerstaat ab.

Gelebter Parlamentarismus in der Monarchie

Mit der "Dezemberverfassung" war die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des politischen Lebens im Österreich der Habsburger bis zum Zusammenbruch der Monarchie weitgehend abgeschlossen. Einzig die stete Ausweitung des Wahlrechts brachte noch größere Veränderungen: 1873 die Direktwahl des Ab­geord­neten­hauses und 1907 die Einführung des allgemeinen, direkten und gleichen Männerwahlrechts. Im Zuge der Wahlrechtsreformen stieg die Anzahl der Mandate auf 516.

Bewegung in der politischen Landschaft

Die Ausweitung des Wahlrechts machte sich in der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses bemerkbar. Als 1897 erstmals alle Männer in einer allgemeinen fünften Kurie wählen durften (die weniger als 20 Prozent der Gesamtmandate bestimmte), zogen die ersten Sozialdemokraten und Christlich­sozialen in das 1883 fertiggestellte neue Parlaments­gebäude an der Wiener Ringstraße ein.

Auch das deutschnationale Lager konnte stark zulegen. Bei der Wahl 1907 – der ersten mit allgemeinem und gleichem Männerwahlrecht – waren die Christlichsozialen zuerst zweitstärkste Partei und lagen nach dem Zusammengehen mit den Katholisch-Konservativen als mandatsstärkste Einzelpartei vor den Sozialdemokraten. Das in verschiedene Gruppierungen zersplitterte deutschnationale Lager stellte die drittstärkste politische Kraft.

Allgemeines Wahlrecht: Teilweise Gegenliebe

Die Ausweitung des Wahlrechts begrüßten nicht alle mit ungeteilter Freude, wie ein Phonogramm von Ernst Freiherr von Plener, einer der Führer der Altliberalen, beweist. In der Aufzeichnung verleiht er seinen Zweifeln am neuen Wahlrecht Ausdruck. Ganz anders äußerte sich Victor Adler, der damalige Parteiführer der Sozialdemokraten: In einem Phonogramm aus dem Jahr 1906 betont er die Bedeutung des neuen Wahlrechts für die Arbeiterklasse.

Diese Entwicklung spiegelt das Aufkommen der politischen Massenparteien in den 80er- und 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts wider. Das Abgeordnetenhaus war von liberalen und konservativen Honoratiorenparteien beherrscht gewesen, die die Interessen des Großbürgertums und der Grundbesitzer vertraten. Mit den Massenparteien waren erstmals die Interessen breiter Bevölkerungsschichten im Haus am Ring vertreten. Auch bis dato unterrepräsentierte ethnische Gruppen wie die Ruthenen (Ukrainer) konnten sich nun verstärkt einbringen.

Ein Blick auf die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses von 1867 zeigt, wie die Massenparteien die Honoratiorenparteien zu verdrängen begannen: Damals waren 66 Mandatare Grund- und Realitätenbesitzer, 39 Beamte, 33 Rechtsanwälte und Notare. Weiters waren 19 Kaufleute und Industrielle, 13 Geistliche, acht Professoren und Lehrer, vier Ärzte, zwei nicht aktive Offiziere, ein Techniker und ein Schriftsteller in der Volksvertretung.

Nationalitäten­konflikte lähmen das Abgeordnetenhaus

Der Konflikt zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten des Habsburgerreiches war schon vor dem Erfolgslauf der Massenparteien sichtbar und wurde immer stärker. War es im revolutionären Reichstag von 1848 noch zu einer Verständigung zwischen den verschiedenen Völkern gekommen, so sollte der Nationalitätenstreit in der Folge immer wieder hochkochen.

Der Ausgleich mit Ungarn trug zu den Spannungen bei. Besonders die Tschechen fühlten sich benachteiligt. Deshalb boykottierten die tschechischen Abgeordneten aus Mähren den Reichsrat der Dezemberverfassung bis ins Jahr 1874, die tschechischen Vertreter Böhmens sogar bis 1879. Auch die Polen, Ruthenen und Südslawen (Slowenen, Kroaten) waren unglücklich mit der herrschenden Situation. 

Auch das geltende Kurienwahlsystem bevorzugte die deutsche Bevölkerung etwa in Böhmen und Mähren. Die deutsche Mehrheit im Abgeordnetenhaus nutzte ihre Übermacht lange Zeit, um "den nationalen Besitzstand" – wie die Diktion der Zeit es nannte – mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. In den 1890ern erstarkte die deutschnationale Fraktion spürbar.

Obstruktionen im Parlament

Umgesetzte oder auch nur angedachte Maßnahmen für oder gegen eine der Nationalitäten verursachten großen Wirbel in Staat und Parlament. Der parlamentarische "Kampf" der Völker im Abgeordnetenhaus führte immer öfter zu sogenannter Obstruktion: Gegner einer Maßnahme blockierten Verhandlungen durch Lärmen, das Werfen von Tintenfässern, Musizieren oder einfaches Dauerreden. Besonders berüchtigt waren die sogenannten "Pultdeckelkonzerte" – das lautstarke Auf- und Niederschlagen der Pultdeckel.

Manchmal wurden Verhandlungen einer Session (Tagungsperiode des Abgeordnetenhauses) wegen Obstruktionen vorzeitig beendet. Sogar die Polizei führte in Folge von Obstruktion mehrere Abgeordnete aus dem Sitzungssaal ab.

Eindrücke von einer solchen Sitzung beschreibt der amerikanische Autor Mark Twain in seinem Aufsatz "Stirring Times in Austria" (Bewegte Zeiten in Österreich) mit einer gewissen Faszination für das Geschehen. Er zeichnet darin ein gutes Bild der damaligen Nationalitätenkonflikte.

Keine Entspannung in Sicht

Die Hoffnungen von Kaiser und Regierung, dass durch das Aufkommen der Massenparteien eine Entspannung dieses Problems einsetzen würde, wurde enttäuscht: Die Christlichsozialen blieben großteils eine rein deutsche Partei; die Sozialdemokraten, die den Anspruch des Internationalismus stellten, spalteten sich nach den Wahlen 1907 in fünf Nationalitätenfraktionen unter einem Dach auf. 1911 bildeten sie endgültig drei parlamentarische Klubs – getrennt nach deutschen, tschechischen und polnischen Abgeordneten.

Es gab zahlreiche Anläufe auf einen Ausgleich mit den slawischen Nationalitäten, die in einigen Kronländern sogar gelingen sollten. Galizien erhielt eine gewisse Autonomie; für Mähren konnte 1905 ein Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen geschlossen werden.

Letztendlich scheiterte das Parlament daran, ähnliche Regelungen für die gesamte österreichische Reichshälfte zu schaffen, auch wenn die genannten Beispiele immer wieder Hoffnung auf die Lösung der Nationalitätenkonflikte gaben.