Das Ende der Demokratie

Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit und das Beispiel autoritärer Bewegungen im Ausland begünstigen Anfang der 1930er-Jahre die Ausbreitung antidemokratischer und antiparlamentarischer Kräfte. Während die Sozialdemokrat:innen aus den Wahlen von 1930 als stärkste Partei hervorgehen, droht dem zersplitterten bürgerlichen Lager die parlamentarische Mehrheit und damit die politische Vormacht zu entgleiten. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nutzt eine Geschäftsordnungskrise des Nationalrats, um das Parlament auszuschalten.

National­ratswahl 1930

Im November 1930 sind die Österreicher:innen aufgerufen, einen neuen Nationalrat zu wählen. Bundeskanzler Johannes Schober war wegen eines Streits um die Besetzung der ÖBB-Direktion zurückgetreten. Es soll der letzte bundesweite Urnengang in der Ersten Republik werden.

In der Original-Aufnahme ruft der sozialdemokratische Parteivorsitzende Karl Seitz zur Wahl auf.

Wahlgewinn für Sozialdemokrat:innen

Klare Wahlgewinnerin ist neuerlich die sozialdemokratische Partei, die mit 72 Mandaten die stimmenstärkste Fraktion im Nationalrat stellt. Die bürgerlichen Parteien haben diesmal getrennt kandidiert.

Die Christlichsozialen sind in Wien und Niederösterreich ein Wahlbündnis mit den Heimwehren eingegangen und erleiden eine deutliche Niederlage. Sie verlieren Stimmen an die erstmals angetretene Wahlpartei der Heimwehren, den antiparlamentarischen Heimatblock, der nun als eigenständige politische Kraft in den Nationalrat einzieht.

Gewinne kann auch der Nationale Wirtschaftsblock verbuchen, der aus Großdeutschen und der nationalliberalen Bauernpartei Landbund besteht. Mit knapp 112.000 Stimmen verfehlen die Nationalsozialisten den Einzug in den Nationalrat.

Das Volk will Stabilität

In Summe kann das Wahlergebnis als Wunsch der Bevölkerung nach stabilen politischen Verhältnissen gedeutet werden.

Der antiparlamentarische Heimatblock hat wesentlich schlechter abgeschnitten als erwartet, innerhalb der Christlichsozialen Partei erscheinen die gemäßigten Kräfte gestärkt.

Die Zersplitterung erschwert die Mehrheitsbildung im Nationalrat für das bürgerliche Lager. Die nachfolgenden bürgerlichen Regierungen können sich nur auf knappe parlamentarische Mehrheiten stützen.

Autoritäre Krisenbewältigung

Von Beginn an beschäftigen die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise das Parlament. Otto Bauer, führender Theoretiker der sozialdemokratischen Partei, sieht in einer Wahlrede 1930 den Kapitalismus als Ursache der Wirtschaftskrise und warnt vor der Gefahr des Faschismus durch ein Bündnis der bürgerlichen Parteien mit rechten, antidemokratischen Kräften.

Anfang Mai 1931 kann die größte österreichische Bank, die Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe, nur durch eine staatliche Rettungsaktion im Umfang von knapp einem Jahresbudget vor dem Zusammenbruch bewahrt werden.

Alle Parteien befürworten drastische Einschnitte, um das Budgetgleichgewicht sicherzustellen. Die Vorstellungen über die Art der Einsparungen klaffen aber weit auseinander. Ein Angebot der Christlichsozialen, in eine Koalitionsregierung einzutreten, lehnt die sozialdemokratische Partei ab: Sie will nicht der "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" sein. 

In harten Verhandlungen gelingt es, den Regierungsentwurf in wesentlichen Punkten wie der Arbeitslosenversicherung zu entschärfen. Das Budgetsanierungsgesetz wird mit den Stimmen aller Parteien, ausgenommen des Heimatblocks, beschlossen.

Zenit der Wirtschaftskrise

1932/33 erreicht die Wirtschaftskrise ihren Höhepunkt. Die Zahl der Arbeitslosen steigt auf knapp 600.000. Gleichzeitig wächst die Kritik am Parlamentarismus.

Auch die Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß teilt zusehends die Auffassung, die Sanierungsmaßnahmen nur mit Hilfe autoritärer Mittel durchsetzen zu können.

Warnende Stimmen bleiben in der Minderheit. So auch Karl Renner, der in einer Rede 1931 – in der Annahme, dass der Bundespräsident zum ersten Mal durch eine Volkswahl gewählt werde – zu einer "völligen Wende" im "Geist der Verständigung und Zusammenarbeit" von 1918 aufruft.

Erster Schritt zur Umgehung des Parlaments

Im Oktober 1932 setzt die Regierung einen ersten Schritt zur Umgehung des Parlaments: Unter dem Vorwand der Verfolgung der Bankdirektoren, die für die Krise der Credit-Anstalt verantwortlich sind, erlässt sie eine Notverordnung. Sie basiert auf dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917, einer aus der Monarchie stammenden Regelung zur Erleichterung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung.

Die sozialdemokratische Opposition versucht vergeblich, eine Aufhebung dieses Ermächtigungsgesetzes zu erreichen.  Mit einer Dringlichen Anfrage betreffend die "mißbräuchliche Anwendung" erzwingt sie lediglich eine Behandlung der Materie im Nationalrat.

Grundsatzfrage der Demokratie

Der Hauptredner, Karl Seitz, wirft der Regierung Verfassungsbruch vor. Dieser sei plump mit einer von der Opposition seit langem geforderten Heranziehung der Schuldigen der Credit-Anstalt-Krise verbrämt worden.

Den Kern der Sache formuliert als Grundsatzfrage: "Wollen wir eine Republik Österreich, wollen wir Demokratie in Österreich, oder wollen wir die Herrschaft irgendeines einzelnen Menschen, eines Klüngels von einigen Menschen, die da regieren wollen!"

Der sozialdemokratische Misstrauensantrag gegen die Regierung bleibt ohne Mehrheit.

Ausschaltung des National­rats

Rund vier Monate nach der erstmaligen Anwendung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes tritt das von der sozialdemokratischen Opposition befürchtete Ende der parlamentarischen Demokratie ein.

Am 4. März 1933 findet eine außerordentliche Sitzung des Nationalrates statt. Zur Debatte steht ein Streik der Eisenbahner, an dem die Gewerkschaften aller politischen Richtungen beteiligt sind. Die Mehrheitsverhältnisse sind knapp. Wegen eines Streits um die Auszählung der namentlichen Abstimmung tritt Präsident Renner, der den Vorsitz führt, zurück. Der Zweite und der Dritte Präsident folgen seinem Beispiel.

Der Nationalrat ist handlungsunfähig.

Dollfuß übernimmt

Die Geschäftsordnung sieht 1933 keine Regelungen für den Fall vor, dass alle Präsident:innen ihr Amt niedergelegt haben. Abgeordnete bemühen sich dennoch, dass der Nationalrat wieder zusammenkommen soll. Bundeskanzler Dollfuß erklärt jedoch, der Nationalrat habe sich "selbst ausgeschaltet". Er regiert von nun an autoritär mittels Notverordnungen auf Grundlage des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes und ohne Parlament.

Auf Versuche des Dritten Präsidenten, den Nationalrat zu einer Sitzung am 15. März einzuberufen, antwortet die Regierung mit Polizeigewalt. Sie hindert sozialdemokratische und großdeutsche Abgeordnete am Betreten des Hohen Hauses.

Die parlamentarische Demokratie in Österreich ist damit de facto beendet. Dass der Bundesrat weiter tagt und die Verfassung formell aufrecht bleibt, ändert daran nichts.

Versuche der Opposition, über den Bundesrat eine Einberufung des Nationalrats zu erreichen, schlagen fehl.

Autoritärer Staat mit Scheinparlament

Im Februar 1934 drängt die Bundesregierung nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands des Republikanischen Schutzbunds die sozialdemokratische Opposition in die Illegalität. Ein Filmdokument zeigt die Ereignisse aus der Perspektive der Regierung, die die Kampfhandlungen als einen sozialdemokratischen Putschversuch darstellt.   

Ein Parlament allein im Dienst der Regierung

Übrig bleibt ein "Rumpfnationalrat" ohne die Abgeordneten der sozialdemokratischen Opposition. Ihre Mandate erklärt die Regierung per Notverordnung für erloschen.

Dieses Rumpfparlament ermächtigt die Regierung am 30. April 1934 zur Erlassung der ständisch-autoritären Verfassung. Der offizielle Name des Staates lautet nunmehr "Bundesstaat Österreich".

Als Träger der Staatsgewalt fungiert nicht mehr das Volk. In der Präambel zur Verfassung heißt es: "Im Namen Gottes, des Allmächtigen, von dem alles Recht ausgeht, erhält das österreichische Volk für seinen christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung."

Die aufgrund dieses Regelwerks eingerichteten Organe der Bundesgesetzgebung sind Institutionen eines Scheinparlaments: Weder der Art seines Zustandekommens nach noch der ihm gestellten Aufgaben nach kann es als Parlament im eigentlichen Sinn gelten.

Folgen für sozialdemokratische Abgeordnete

In den vier Jahren des autoritären Regimes werden viele Abgeordnete der sozialdemokratischen Partei aus politischen Gründen kurzfristig inhaftiert. 13 von ihnen werden zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Sechs Abgeordnete entziehen sich der Verfolgung durch Emigration.

Der Abgeordnete und Kommandant des Republikanischen Schutzbundes in der Obersteiermark, Koloman Wallisch, wird nach den Februarkämpfen standrechtlich hingerichtet.

Zwei Abgeordnete, die bei den Wahlen 1930 den Christlichsozialen bzw. dem Heimatblock angehört hatten, werden vom autoritären Regime mit Freiheitsstrafen belegt.

Kurze Unabhängigkeit

Das Ziel, in der Konkurrenz zum nationalsozialistischen Deutschland zu bestehen und Österreichs staatliche Unabhängigkeit zu sichern, verfehlt das autoritäre Regime.

Im März 1938 beendet der Einmarsch deutscher Truppen Österreichs staatliche Existenz gewaltsam. Mit dem von vielen Menschen begrüßten "Anschluss" wird Österreich zu einem Teil des nationalsozialistischen Deutschen Reichs.

Demokratisch-parlamentarische Einrichtungen bestehen in keinem der beiden Systeme.