Die erste Zeit nach dem Zerfall der Monarchie ist geprägt vom Konsenswillen der großen Parteien. Wirtschaftliche Not und politische Spannungen führen in der jungen Republik bald zu Zerwürfnissen in der Bevölkerung und Forderungen nach einer neuen politischen Ausrichtung.
Die Geburt der Republik
Der alte Staat zerfällt
Im Herbst 1918 zeigen sich unübersehbar Auflösungserscheinungen der Habsburger Monarchie: "Schluss machen!" fordern nicht nur jene, die trotz der absehbaren militärischen Niederlage noch "einrückend gemacht werden" sollen. Nach mehr als vier Jahren Krieg sind die Ressourcen erschöpft und die Friedenssehnsucht bei Soldaten und Zivilbevölkerung groß.
Gehorsamsverweigerung in der Armee, Arbeitsniederlegung in den großen Rüstungsbetrieben und das Streben der Völker der Monarchie nach staatlicher Selbständigkeit bringen den österreichisch-ungarischen Doppelstaat endgültig zum Einsturz. Neu konstituierte nationale Parlamente erklären ihre Unabhängigkeit und setzen eigene Regierungen ein, die von nun an die staatliche Gewalt ausüben.
Die Provisorische Nationalversammlung
Auch die verbliebenen 208 Abgeordneten der deutschen Wahlbezirke des 1911 gewählten Reichsrats bilden eine eigene "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich". Sie wird als "provisorisch" bezeichnet, weil ihre Mitglieder nicht in Wahlen gewählt worden sind. Ihre Aufgabe ist es, alle notwendigen Schritte für die vorläufige Organisation des neuen Staates zu setzen und Wahlen vorzubereiten.
In der konstituierenden Sitzung am 21. Oktober 1918 im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse gibt es noch keine Klarheit über die zukünftige Staatsform und das Staatsterritorium. Die Parlamentarier sind aber entschlossen, einen neuen selbständigen Staat zu gründen. Zugleich will die Mehrheit von ihnen, dass dieser Staat Teil eines neuen Deutschlands werden soll. Sie sind überzeugt, dass Österreich als Kleinstaat nicht würde bestehen können.
Gründung von Deutschösterreich
Schon in der darauffolgenden Sitzung am 30. Oktober einigen sie sich auf eine provisorische Verfassung und wählen eine Regierung (Vollzugsausschuss): Der "Deutsch-österreichische Staatsrat" besteht aus Mitgliedern der drei großen politischen Fraktionen – den Deutschnationalen Gruppierungen, der Christlichsozialen Partei (CSP) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP).
Als Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung werden Franz Dinghofer (Deutschnationale), Jodok Fink (CSP), später abgelöst durch Johann Nepomuk Hauser (CSP), und Karl Seitz (SDAP) gewählt.
Die Republik Deutschösterreich ist gegründet. Der alte Staat mit der kaiserlichen Regierung besteht mit dem Abgeordnetenhaus und dem Herrenhaus weiter.
Das Volk fordert einen Neubeginn
Während die Abgeordneten im Landhaus tagen, demonstrieren draußen zahlreiche Bürger:innen für einen radikalen politischen Neubeginn. Der Polizeibeamte Franz Brandl, engster Mitarbeiter des damaligen Leiters der Wiener Polizeidirektion, Johannes Schober, und 1932 dessen Nachfolger beobachtet das Geschehen:
"30. Oktober nachmittags: Die Nationalversammlung im Gebäude des niederösterreichischen Landhauses in der Herrengasse. Aus diesem Anlass waren die Straßen freigegeben. Die Herrengasse und die umliegenden Gassen sind von Tausenden erfüllt; der Parteirichtung nach sind es zumeist Sozialdemokraten und Deutschnationale, die Christlichsozialen blieben zu Hause.
Im Saale Debatten, heraußen wird die Menge unruhig. Man will die Republik und fürchtete die Sabotage der Christlichsozialen. Zur Beruhigung der Angesammelten tritt bald ein Sozialdemokrat, bald ein Deutschnationaler auf den Balkon und hält eine Ansprache. Man soll nur ruhig sein, sagt ein Sozialdemokrat, die deutsch-österreichische Republik werde bestimmt ausgerufen werden. 'Am Anschluß ist nicht zu zweifeln', beruhigt ein Deutschnationaler. Schwarz-rot-goldene Fahnen tauchen auf, aber auch rote. Erinnerungen an 1848 werden heraufbeschworen. Viel Beifall auf die Reden, aber auch erregte Rufe von den Sozialdemokraten zu den Deutschnationalen und von diesen auf jene. 'Hohenzollernknechte!' 'Internationales Gesindel!' sind die gegenseitigen Schmeichelworte. Für den Kaiser erhebt sich keine Stimme, und schließlich gab und gibt es doch hunderttausende Christlichsoziale in Wien. Wo sind die?
Es ist ein stetes Gehen und Kommen. Tausende ziehen ab, andere Tausende kommen. Offiziere werden angehalten und veranlaßt, die kaiserliche Kokarde von der Mütze zu nehmen.
... In den Straßen klirren einige Fensterscheiben. Die Polizei geht an die Arbeit, reitet Attacken und verhaftet. Bald ist wieder Ruhe. Die Nationalversammlung hat sich auf ein Provisorium geeinigt. Wir haben einen 'Staatsrat' aus allen drei Parteien, der die Geschäfte der Staatsgewalt für Deutschösterreich übernimmt und eine Regierung bestellt."
(Zit. nach: 1918. Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente, hg. Rudolf Neck, Wien 1968, 92-93.)
Die Republik wird ausgerufen
"Mit blitzartiger Geschwindigkeit stürmen nun die Ereignisse vorwärts" berichtet die Allgemeine Wiener Zeitung am 11. November 1918: Kaiser Karl I. erklärt sich unter dem Druck der Ereignisse bereit, auf eine Teilhabe an den Regierungsgeschäften zu verzichten und die de facto bereits entmachtete kaiserliche Regierung zu entheben. Denn für den nächsten Tag, Dienstag, den 12. November 1918, hat die Provisorische Nationalversammlung die Ausrufung der Republik angekündigt.
Es soll ein "feierlicher Akt der Taufe" des neuen Staates werden. Zur Verhandlung steht ein von Karl Renner vorgelegter Entwurf, der im Staatsrat – der Regierung – gegen die Stimmen von drei Christlichsozialen angenommen worden war. Die Christlichsoziale Partei will die Entscheidung über die Staatsform ursprünglich zu einem späteren Zeitpunkt auf Basis einer Volksabstimmung treffen, verzichtet in der Sitzung aber auf einen entsprechenden Antrag. Nach kurzer Debatte fasst die Provisorische Nationalversammlung den Beschluss betreffend das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich (StGBl. Nr. 5/1918) dann aber einstimmig.
Artikel 1 des Gesetzes legt fest: "Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt." In Artikel 2 heißt es sodann: "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik."
Menschenmengen vor dem Parlamentsgebäude
Auf der Ringstraße versammelt sich eine große Menschenmenge, um dem historischen Ereignis beizuwohnen. Viele davon sind dem Aufruf der sozialdemokratischen Partei gefolgt. Diese hat angesichts der aufgeheizten Stimmung einen eigenen Ordnerdienst eingerichtet, um einen sicheren Ablauf der Kundgebung zu gewährleisten. Auch Mitglieder der bewaffneten "Roten Garden" nehmen vor dem Parlament Aufstellung. Ihr Ziel ist eine Räterepublik nach dem Vorbild der russischen Revolution. Als nach den Ansprachen der Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung Franz Dinghofer und Karl Seitz auf der Rampe des Parlaments rot-weiß-rote Fahnen gehisst werden sollen, reißen Kundgebungsteilnehmer die weißen Streifen heraus und es werden rote Fahnen aufgezogen. In der Folge kommt es zu einer Schießerei, die zwei Todesopfer fordert.
Einen Eindruck des Aufmarsches und der Ereignisse vor dem Parlamentsgebäude gibt ein Stummfilmdokument der Österreichischen Mediathek.
Selbständiger Staat auf Widerruf?
Artikel 2 des Gesetzes vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform bestimmt, dass der neue Staat "ein Bestandteil der Deutschen Republik" sei. Die in Artikel 1 erklärte staatliche Souveränität wird damit de facto wieder aufgehoben.
Der Grund für diesen Widerspruch ist im Nationalismus zu suchen, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends an Einfluss gewonnen hat. Die nicht deutschsprachigen Völker der Monarchie verbinden die nationale Idee mit dem Streben nach staatlicher Selbständigkeit. Viele deutschsprachige Österreicher:innen hingegen sehen nach dem Zerfall des alten Vielvölkerstaates ihre nationale Zukunft in der Eingliederung des neuen Deutsch-Österreichs in eine gesamtdeutsche Staatsnation.
Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs untersagen jedoch einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und verpflichten Österreich mit dem Friedensvertrag von Saint Germain im September 1919 zur staatlichen Selbständigkeit.
Wenige Wochen später beschließt das Parlament das Gesetz über die Staatsform (StGBl. 484/1919), mit dem der Artikel 2 des Gesetzes vom 12. November 1918 außer Kraft gesetzt und der Staatsname auf "Republik Österreich" geändert wird. In den parlamentarischen Verhandlungen dazu haben sich die Abgeordneten jedoch unisono gegen die von der Entente auferlegte Pflicht zur Abkehr vom Namensattribut "deutsch" und gegen das Anschlussverbot gewandt.