Die Geburt der Republik

Am 12. November 1918 wurde in Österreich die Erste Republik ausgerufen. Ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes begann, das anfänglich von starkem Konsenswillen geprägt war.

Die erste Zeit nach dem Zerfall der Monarchie war geprägt vom Konsenswillen der großen Parteien. Wirtschaftliche Not und politische Spannungen führten in der jungen Republik bald zu Zerwürfnissen in der Bevölkerung und Forderungen nach einer neuen politischen Ausrichtung.

Der alte Staat zerfällt

Im Herbst 1918 zeigten sich unübersehbar Auflösungserscheinungen der Habsburger Monarchie: "Schluss machen!" forderten nicht nur jene, die trotz der absehbaren militärischen Niederlage noch "einrückend gemacht werden" sollten. Nach mehr als vier Jahren Krieg waren die Ressourcen erschöpft und die Friedenssehnsucht bei Soldaten und Zivilbevölkerung groß.

Gehorsamsverweigerung in der Armee, Arbeitsniederlegung in den großen Rüstungsbetrieben und das Streben der Völker der Monarchie nach staatlicher Selbständigkeit brachten den österreichisch-ungarischen Doppelstaat endgültig zum Einsturz. Neu konstituierte nationale Parlamente erklärten ihre Unabhängigkeit und setzten eigene Regierungen ein, die von nun an die staatliche Gewalt ausübten.

Die provisorische Nationalversammlung

Auch die verbliebenen 208 Abgeordneten der deutschen Wahlbezirke des 1911 gewählten Reichsrats bildeten eine eigene "Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich".

In der konstituierenden Sitzung am 21. Oktober 1918 im Niederösterreichischen Landhaus in der Wiener Herrengasse gab es noch keine Klarheit über die zukünftige Staatsform und das Staatsterritorium. Die Parlamentarier waren aber entschlossen, einen neuen selbständigen Staat zu gründen.

Gründung von Deutschösterreich

Schon in der darauffolgenden Sitzung am 30. Oktober einigten sie sich auf eine provisorische Verfassung und wählten eine Regierung (Vollzugsausschuss): Der "Deutsch-österreichische Staatsrat" bestand aus Mitgliedern der drei großen politischen Fraktionen – den Deutschnationalen Gruppierungen, der Christlichsozialen Partei (CSP) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP).

Als Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung wurden Franz Dinghofer (Deutschnationale), Jodok Fink (CSP), später abgelöst durch Johann Nepomuk Hauser (CSP), und Karl Seitz (SDAP) gewählt.

Die Republik Deutschösterreich war gegründet. Der alte Staat mit der kaiserlichen Regierung bestand mit dem Abgeordnetenhaus und dem Herrenhaus weiter.

Das Volk fordert einen Neubeginn

Während die Abgeordneten im Landhaus tagten, demonstrierten draußen zahlreiche Bürger:innen für einen radikalen politischen Neubeginn. Der Polizeibeamte Franz Brandl, engster Mitarbeiter des damaligen Leiters der Wiener Polizeidirektion, Johannes Schober, und 1932 dessen Nachfolger beobachtete das Geschehen:

"30. Oktober nachmittags: Die Nationalversammlung im Gebäude des niederösterreichischen Landhauses in der Herrengasse. Aus diesem Anlass waren die Straßen freigegeben. Die Herrengasse und die umliegenden Gassen sind von Tausenden erfüllt; der Parteirichtung nach sind es zumeist Sozialdemokraten und Deutschnationale, die Christlichsozialen blieben zu Hause.

Im Saale Debatten, heraußen wird die Menge unruhig. Man will die Republik und fürchtete die Sabotage der Christlichsozialen. Zur Beruhigung der Angesammelten tritt bald ein Sozialdemokrat, bald ein Deutschnationaler auf den Balkon und hält eine Ansprache. Man soll nur ruhig sein, sagt ein Sozialdemokrat, die deutsch-österreichische Republik werde bestimmt ausgerufen werden. 'Am Anschluß ist nicht zu zweifeln', beruhigt ein Deutschnationaler. Schwarz-rot-goldene Fahnen tauchen auf, aber auch rote. Erinnerungen an 1848 werden heraufbeschworen. Viel Beifall auf die Reden, aber auch erregte Rufe von den Sozialdemokraten zu den Deutschnationalen und von diesen auf jene. 'Hohenzollernknechte!' 'Internationales Gesindel!' sind die gegenseitigen Schmeichelworte. Für den Kaiser erhebt sich keine Stimme, und schließlich gab und gibt es doch hunderttausende Christlichsoziale in Wien. Wo sind die?

Es ist ein stetes Gehen und Kommen. Tausende ziehen ab, andere Tausende kommen. Offiziere werden angehalten und veranlaßt, die kaiserliche Kokarde von der Mütze zu nehmen.

... In den Straßen klirren einige Fensterscheiben. Die Polizei geht an die Arbeit, reitet Attacken und verhaftet. Bald ist wieder Ruhe. Die Nationalversammlung hat sich auf ein Provisorium geeinigt. Wir haben einen 'Staatsrat' aus allen drei Parteien, der die Geschäfte der Staatsgewalt für Deutschösterreich übernimmt und eine Regierung bestellt."

(Zit. nach: 1918. Österreich im Jahre 1918. Berichte und Dokumente, hg. Rudolf Neck, Wien 1968, 92-93.)

Die Republik wird ausgerufen

"Mit blitzartiger Geschwindigkeit stürmen nun die Ereignisse vorwärts" berichtete die Allgemeine Wiener Zeitung am 11. November 1918: Kaiser Karl I. erklärte sich unter dem Druck der Ereignisse bereit, auf eine Teilhabe an den Regierungsgeschäften zu verzichten und die de facto bereits entmachtete kaiserliche Regierung zu entheben. Denn für den nächsten Tag, Dienstag, den 12. November 1918, hatte die Provisorische Nationalversammlung die Ausrufung der Republik angekündigt.

Es sollte ein "feierlicher Akt der Taufe" des neuen Staates werden. Zur Verhandlung stand ein von Karl Renner vorgelegter Entwurf, der im Staatsrat – der Regierung – gegen die Stimmen von drei Christlichsozialen angenommen worden war. Die Christlichsoziale Partei wollte die Entscheidung über die Staatsform ursprünglich zu einem späteren Zeitpunkt auf Basis einer Volksabstimmung treffen, verzichtete in der Sitzung aber auf einen entsprechenden Antrag. Nach kurzer Debatte fasste die Provisorische Nationalversammlung den Beschluss betreffend das Gesetz über die Staats- und Regierungsform von Deutschösterreich (StGBl. Nr. 5/1918) dann aber einstimmig.

Artikel 1 des Gesetzes legt fest: "Deutschösterreich ist eine demokratische Republik. Alle öffentlichen Gewalten werden vom Volke eingesetzt."

Menschenmengen vor dem Parlamentsgebäude

Auf der Ringstraße hatte sich eine große Menschenmenge versammelt, um dem historischen Ereignis beizuwohnen. Viele davon waren dem Aufruf der sozialdemokratischen Partei gefolgt. Diese hatte angesichts der aufgeheizten Stimmung einen eigenen Ordnerdienst eingerichtet, um einen sicheren Ablauf der Kundgebung zu gewährleisten. Auch Mitglieder der bewaffneten "Roten Garden" hatten vor dem Parlament Aufstellung genommen. Ihr Ziel war eine Räterepublik nach dem Vorbild der russischen Revolution. Als nach den Ansprachen der Präsidenten der Provisorischen Nationalversammlung Franz Dinghofer und Karl Seitz auf der Rampe des Parlaments rot-weiß-rote Fahnen gehisst werden sollten, rissen Kundgebungsteilnehmer die weißen Streifen heraus und es wurden rote Fahnen aufgezogen. In der Folge kam es zu einer Schießerei, die zwei Todesopfer forderte.

Einen Eindruck des Aufmarsches und der Ereignisse vor dem Parlamentsgebäude gibt ein Stummfilmdokument der Österreichischen Mediathek.

Selbständiger Staat auf Widerruf?

Artikel 2 des Gesetzes vom 12. November 1918 über die Staats- und Regierungsform bestimmt, dass der neue Staat "ein Bestandteil der Deutschen Republik" sei. Die in Artikel 1 erklärte staatliche Souveränität wurde damit de facto wieder aufgehoben.

Der Grund für diesen Widerspruch ist im Nationalismus zu suchen, der seit Mitte des 19. Jahrhunderts zusehends an Einfluss gewonnen hatte. Die nicht deutschsprachigen Völker der Monarchie verbanden die nationale Idee mit dem Streben nach staatlicher Selbständigkeit. Die deutschsprachigen Österreicher:innen hingegen sahen nach dem Zerfall des alten Vielvölkerstaates ihre nationale Zukunft in der Eingliederung des neuen Deutsch-Österreich in eine gesamtdeutsche Staatsnation.

Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs untersagten jedoch einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich und verpflichteten Österreich mit dem Friedensvertrag von Saint Germain im September 1919 zur staatlichen Selbständigkeit.

Wenige Wochen später beschloss das Parlament das Gesetz über die Staatsform (StGBl. 484/1919), mit dem Artikel 2 des Gesetzes vom 12. November 1918 außer Kraft gesetzt und der Staatsname auf "Republik Österreich" geändert wurde. In den parlamentarischen Verhandlungen dazu hatten sich die Abgeordneten jedoch unisono gegen die von der Entente auferlegte Pflicht zur Abkehr vom Namensattribut "deutsch" und gegen das Anschlussverbot gewandt.