Stenographische Protokolle der geheimen Sitzungen Juli 1918

Was aus den Stenographischen Protokollen der geheimen Sitzungen hervorgeht, finden Sie hier.

Mehr als hundert Jahre sind seit der Gründung unserer Republik vergangen. Sie entstand im Gefolge des Ersten Weltkriegs, den die Monarchie Österreich-Ungarn mit verantwortete. Die Kriegs­entscheidung war ohne das Parlament getroffen worden. Erst ab Mai 1917 konnten die Mandatare ihre Aufgabe wieder wahrnehmen. Im Juli 1918 erzwang der Reichsrat eine politische Debatte über die verlustreiche Italien-Offensive. Für diese Verhandlungen wurde auf Drängen der Regierung Geheimhaltung vereinbart. Die Parlamentsdirektion stellt die Protokolle dieser Sitzungen nun in einer Neuedition zur Verfügung.

Historischer Kontext: Der Anfang vom Ende

In einer letzten großen Anstrengung versuchte die mit dem deutschen Kaiserreich verbündete Donaumonarchie im Frühjahr 1918, den Ersten Weltkrieg doch noch zu ihren Gunsten zu entscheiden. Das militärische Scheitern hatte eine schonungslose politische Abrechnung des Abgeordnetenhauses mit den verantwortlichen Mitgliedern der Regierung und des Militärs zur Folge. Auf Drängen der Regierung erfolgten die Verhandlungen im Geheimen. Zum 100. Jahrestag jener Ereignisse wurden die Protokolle von damals  unzensiert vorgelegt.

Der militärische Aspekt

1918 trat Europa in das fünfte Kriegsjahr ein. Seit dem Spätsommer 1914 tobte vom Atlantik bis weit in die Ebenen der Ukraine ein zuvor nie gekanntes Völkerschlachten mit unvorstellbar hohen Verlusten an Mensch und Material. Alle strategischen Überlegungen, die von einer raschen Entscheidung ausgegangen waren, hatten sich als falsch erwiesen. Die Truppen waren schnell gezwungen gewesen, sich buchstäblich einzugraben, worauf ein ermüdender und dennoch verlustreicher Stellungskrieg folgte, der bis 1917 kaum wesentliche Änderungen der Gesamtsituation bewirkte.

Im Frühjahr 1917 wähnten sich die Mittelmächte erstmals in einem strategischen Vorteil, da es in Russland zu einer Revolution gekommen war, in deren Gefolge der Zar zur Abdankung gezwungen gewesen war. Doch die neue republikanische Regierung schien gewillt, den Krieg an der Seite Englands und Frankreichs fortzusetzen. Zudem traten wenig später die Vereinigten Staaten an der Seite der Alliierten in den Krieg ein, sodass Berlin und Wien im Herbst 1917 wenig Anlass hatten, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

Allerdings kam es im November 1917 zu einer zweiten Revolution in Russland, welche die Bolschewiki an die Macht brachte, die nun tatsächlich ihr Land aus dem Krieg führen wollten. In dem kleinen Grenzstädtchen Brest-Litowsk begannen Friedensverhandlungen, welche den Mittelmächten die Gelegenheit boten, nennenswerte Truppenkontingente vom Osten in den Westen und Süden zu verlegen. An diesen Fronten wollten die Oberkommandos der deutschen und österreichischen Armeen nun militärisch die Entscheidung erzwingen.

Bereits am 21. März 1918 begann die deutsche Frühjahrsoffensive, die anfänglich zu tiefen Einbrüchen in die alliierten Frontstellungen führte. Allerdings zeigte sich rasch, dass die deutschen Truppen schlecht ausgerüstet und daher ziemlich demoralisiert waren. So kam der deutsche Vormarsch stellenweise deswegen zum Erliegen, weil deutsche Truppenteile englische Lebensmitteldepots unmittelbar hinter der Frontlinie plünderten. Zudem erhielt die alliierte Infanterie massive Luftunterstützung, wogegen die Deutschen kein probates Gegenmittel fanden.

So war es den Deutschen gelungen, auf einer 80 Kilometer langen Front Geländegewinne von bis zu 60 Kilometern zu erzielen, doch waren sie nicht in der Lage, die so gewonnenen Gebiete zu halten. Der unausbleibliche alliierte Gegenangriff stellte Anfang April den Status quo ante wieder her.

Damit erreichte die Unzufriedenheit der Soldaten eine neue Qualität. Immer öfter wurden Angriffsbefehle ignoriert, mehrere Truppenteile standen am Rand der offenen Meuterei, und das deutsche Oberkommando kam zu dem Schluss, eine Niederlage nur durch einen sofortigen und nachhaltigen Erfolg am westlichen Frontabschnitt verhindern zu können. Dementsprechend wurde die Kriegsführung noch einmal modernisiert. Neben dem – erstmaligen – massiven Einsatz von Panzern und der flächendeckenden Verteilung einer neuen Maschinenpistole wurde auch die Artillerie in nie gekanntem Maß zum Einsatz gebracht: 6.000 Geschütze verschossen innerhalb von nur vier Stunden zwei Millionen Granaten.

Tatsächlich mussten die Alliierten ein weiteres Mal zurückweichen. Die Deutschen stießen an die Marne vor und waren nur noch 60 Kilometer Luftlinie von Paris entfernt, das somit von den Geschützen der Deutschen bombardiert werden konnte.

Damit allerdings hatten die Deutschen ihre eigenen Kräfte überdehnt. Es war den eilig herbeigeschafften Amerikanern ein Leichtes, die ausgedünnten Stellungen der Deutschen zu überrennen, sodass auch der zweite Anlauf der Frühjahrsoffensive in einem Scheitern mündete. Mitte Juli 1918 setzte dann eine alliierte Gegenoffensive ein, die, vorgetragen mit massivem Einsatz neuartiger Panzer vom Typ Renault FT, rasch große Geländegewinne erzielte. Die Alliierten hatten ab diesem Zeitpunkt das Momentum auf ihrer Seite und ließen sich das Heft des Handelns nicht mehr aus der Hand nehmen.

Gemäß den Plänen der Mittelmächte sollte der Vorstoß im Westen mit einer neuen Offensive im Süden einhergehen, in deren Zuge die Österreicher die Italiener zu bezwingen hatten. Dabei war das Hauptziel, die Niederlage in der ersten Piaveschlacht, in der Österreichs Angriffe im November 1917 erfolgreich abgewehrt worden waren, im Rahmen einer neuerlichen Schlacht in einen Sieg umzumünzen.

Die österreichische Offensive begann am 15. Juni 1918 mit groß angelegtem Geschützfeuer von der schweizerischen Grenze bis zur Adria, womit allerdings der Offensive von Anfang an die erforderliche eindeutige Schwerpunktsetzung fehlte. Schwer erkämpfte Brückenköpfe mussten alsbald unter schwerstem italienischen Beschuss wieder zurückgenommen werden. Heftige Kämpfe am Monte Grappa erwiesen sich für die Österreicher als fruchtlos, da die Italiener den erhofften Durchbruch ins Hinterland zu verhindern wussten. Nach einer Woche blieb die Offensive der Donaumonarchie im Abwehrsperrfeuer der Italiener stecken und endete ohne zählbares Resultat. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Italiener der Versuchung, selbst in die Offensive zu gehen, widerstanden hatten und den Gegner in geschütztem Terrain erwarteten, wo der strategische Vorteil ganz klar auf ihrer Seite war.

Die österreichische Seite unter Feldmarschall Boroević war ursprünglich – den in diesem Fall unausweichlichen Vorteil der Italiener erkennend – gewillt gewesen, ihrerseits ebenfalls auf eine Offensive zu verzichten und wollte stattdessen den Ausgang der deutschen Westoffensive abwarten, doch das Armeeoberkommando in Baden bei Wien befahl eine Offensive noch vor dem Sommer, sodass Boroević sich fügen musste.

In Baden votierte Feldmarschall Conrad von Hötzendorf in einer Unterredung mit Kaiser Karl für einen Angriff von Südtirol aus, während Boroević in einer späteren Aussprache mit dem Kaiser für die Stoßrichtung vom Isonzo nach Treviso votierte. Der Kaiser genehmigte beide Unternehmungen, ohne den jeweils anderen Feldmarschall davon in Kenntnis zu setzen. Folge dieses Tuns war eine rettungslose Zersplitterung der ohnehin schwachen österreichischen Kräfte, die damit von Beginn an einer sicheren Niederlage entgegengingen. Verschärft wurden diese strategisch desaströsen Fehlplanungen durch das Misslingen des zwei Tage vor dem Hauptangriff – genauer gesagt den Hauptangriffen – angesetzten Ablenkungsangriff, der in einem vollständigen Debakel mündete. In der eigentlichen Schlacht gelangen lediglich einige kleinere Erfolge, die jedoch nicht von Dauer waren. Am 19. Juni startete die italienische Armee einen Gegenstoß, in dessen Zuge alle von den Österreichern zuvor errungenen Brückenköpfe wieder verloren wurden. Da zudem einsetzendes Hochwasser nach heftigen Regenfällen die Versorgung der Truppen zusätzlich erschwerte, gab Boroević am 20. Juni den Rückzugsbefehl. Die Italiener deckten die abziehenden österreichischen Truppen mit einem regelrechten Geschützhagel ein, sodass diese erneut schwerste Verluste erlitten, ohne dass sie den Italienern auch nur annähernd gefährlich werden konnten.

Die Bilanz der Schlacht hätte für die Österreicher kaum verheerender ausfallen können. Nicht weniger als 12.000 Mann waren gefallen, über 80.000 verwundet, weitere 25.000 in Gefangenschaft geraten. Überdies grassierten im Lager der Österreicher mehrere Krankheiten, die ebenfalls zigtausend Soldaten außer Gefecht setzten. Es erscheint nicht übertrieben, festzuhalten, dass ab diesem Zeitpunkt die Niederlage der Donaumonarchie unausweichlich geworden war. Die Frontoffiziere vertrauten dem Oberkommando nicht länger, die Moral der Truppe war am Boden und die Bereitschaft zur Rebellion nahm rapide zu. All das blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Politik.

Die politische Seite

Innenpolitisch befand sich die Doppelmonarchie schon länger in der Defensive. Es rächte sich, dass die deutschsprachige und die ungarische Elite die slawischen Nationen unterdrückt und die übrigen Völker wie Italiener oder Rumänen ignoriert hatten. Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn waren in Böhmen, Mähren und Galizien politische Kräfte aktiv geworden, welche diese Gebiete von Wien loslösen wollten. Politiker wie Masaryk, Beneš oder Piłsudski warben bei den Alliierten offen für eine unabhängige Tschechoslowakei und ein eigenständiges Polen. Doch auch die Kräfte innerhalb des politischen Systems Österreich-Ungarns wurden mit Fortdauer des Krieges immer kompromissloser. 1917 forderten die südslawischen Abgeordneten in ihrer Mai-Deklaration weitgehende Autonomie für ihr Siedlungsgebiet, und auch die gemäßigten Tschechen und Polen gingen allmählich auf Distanz zum Hof.

Hinzu kamen immer massiver werdende soziale Verwerfungen. Die Versorgungsengpässe nahmen rapide zu, was den Unmut der werktätigen Bevölkerung nachhaltig befeuerte. Anfang des Jahres 1918 sah sich die Monarchie mit den größten Unruhen seit der Revolution von 1848 konfrontiert, und nur die Besonnenheit der Sozialdemokratie führte dazu, dass Wien und Budapest nicht dem Beispiel von Sankt Petersburg folgten.

Allerdings war den Sozialdemokraten klar, dass der Wille zur politischen Mäßigung im Volk in rasanter Geschwindigkeit schwand. Wollte die Monarchie auch nur die allernächste Zukunft überleben, musste der Kaiser nennenswerte Zugeständnisse machen. In genau diese Phase platzten die Nachrichten vom verheerenden Ausgang der jüngsten Offensive.

Kein Wunder also, dass die oppositionellen Kräfte, von den Sozialdemokraten bis zu den nationalen Vertretern der slawischen Völker, der kaiserlichen Regierung die Leviten lesen wollten. Den Ministern gelang es gerade noch, ein öffentliches Sicherheitsinteresse geltend zu machen, sodass beschlossen wurde, die bevorstehende Abrechnung mit dem Kurs der kaiserlichen Administration im Geheimen stattfinden zu lassen. Die Kritiker des kaiserlichen Kriegskurses nahmen sich darob nur noch weniger ein Blatt vor den Mund und ließen kein gutes Haar an der vorherrschenden Politik. Gleichwohl gingen ihre Mahnungen bei den Verantwortlichen ins Leere, was zur Folge hatte, dass die Monarchie nur wenige Wochen später Geschichte sein sollte.

Tatsächlich bildeten sich auf dem Boden des ehemaligen Habsburgerreiches zahlreiche Nachfolgestaaten, in denen viele jener Politiker, die in den Geheimsitzungen vom Sommer 1918 das Wort ergriffen hatten, führende Funktionen einnahmen. Ignacy Daszyński wurde der erste Premier des neuen Polen, Václav Klofáč übernahm im Kabinett Kramář das Amt des Verteidigungsministers, und Karl Seitz avancierte als Präsident der Provisorischen Nationalversammlung zum Staatsoberhaupt der neuen Republik.

Jene Militärs aber, die sich noch im Frühjahr 1918 überzeugt davon gezeigt hatten, den Krieg gewinnen zu können, hatten als Pensionäre reichlich Gelegenheit, darüber nachzusinnen, ob ihr Tun wirklich so segensreich für das Land gewesen war.