Verfassung

In einer Verfassung finden sich etwa die Regeln dafür, wie ein Staat aufgebaut ist und wer Gesetze beschließen kann.

Regeln für Staat und Politik

Als Verfassung werden heute besondere und sehr spezielle Gesetze bezeichnet, die die Grundlage für staatliches Handeln bilden und die Einrichtung und Ausübung von politischer Herrschaft regeln. 

"Ausübung politischer Herrschaft" bedeutet, dass eine Verfassung nicht nur festlegt, welche Einrichtungen es geben soll. Sie regelt auch, wie Entscheidungen (also zum Beispiel Gesetze oder Urteile von Gerichten) getroffen werden sollen, was die einzelnen Einrichtungen des Staates tun dürfen, und wo Grenzen gesetzt werden.

In der Verfassung steht, dass alle Organe des Staates nur auf der Basis von Gesetzen tätig werden dürfen. Hier ist geregelt, welche staatlichen Einrichtungen es gibt, wie die Regierung gebildet wird, welche Verantwortung sie hat und wie die Verwaltung aufgebaut werden soll. Hier wird festgelegt, dass Gerichte und Richter:innen unabhängig entscheiden müssen, und hier wird auch festgelegt, wie die staatlichen Einrichtungen kontrolliert werden.

Mit einer Verfassung wird der Anspruch erhoben, den Aufbau eines Staates grundsätzlich zu regeln. Das bedeutet auch, dass alles, was in diesem Staat geschehen kann, genauen Regeln folgen muss und Beschränkungen unterliegt.

Verfassungsrealität und politische Praxis

Wenn von der Verfassung eines Staates gesprochen wird, kann aber auch eine Beschreibung davon gemeint sein, wie Abläufe in einem Staat tatsächlich funktionieren: Wer verfügt über Einfluss, wer bestimmt Themen, wer kann Projekte verhindern, oder wie kommen Entscheidungen zustande.

In Österreich ist es z. B. so, dass die Bundesverfassung in sehr vielen Staatsangelegenheiten eine zentrale Stellung für das Parlament vorsieht. Tatsächlich dominieren aber die Regierung und die Regierungsparteien weite Teile der Politik. So wird etwa in den Medien regelmäßig berichtet, dass "sich die Regierung auf ein Gesetz geeinigt hat". Selbstverständlich wird der Gesetzentwurf dann noch dem Nationalrat und dem Bundesrat zur Beschlussfassung vorgelegt. Aber selbst wenn dort nach intensiven Diskussionen noch Änderungen vorgenommen werden, bleibt in der Öffentlichkeit oft der Eindruck, dass letztendlich nicht das Parlament, sondern die Regierung Gesetze beschließt.

Neben der formalen Verfassung gibt es die "gelebte" Verfassung – die sogenannte Realverfassung. Die Realverfassung beschreibt die verschiedenen informellen (im Gegensatz zu den formellen) Abläufe, die im politischen Geschehen wirksam werden. So wird der Einfluss der Bundesregierung, der Landeshauptleute oder der politischen Parteien klar. Sie können sich aber nie über die rechtliche Verfassung hinwegsetzen.

Der Grundkonsens in Staat und Politik

Eine Verfassung stellt mit ihren Regeln Erwartungen an alle, die im Staat Funktionen haben und Verantwortung tragen. Die Erfüllung dieser Erwartungen ist keine Selbstverständlichkeit – zum Beispiel, dass das Parlament ausführlich über Gesetze diskutiert oder Richter:innen unabhängig sind. Daher müssen diese Erwartungen besonders geschützt werden. Und daher muss alles, was vom Parlament beschlossen wird und was die Regierung tut, auch an der Verfassung gemessen werden. Es muss überprüft werden, ob das, was in der Politik und im Staat geschieht, den Regeln entspricht, die die Bürger:innen dafür aufgestellt haben. Die Verfassung muss daher von allen Bürger:innen eines Staates, vor allem aber von den politischen Parteien und ihren Vertreter:innen im Parlament akzeptiert werden. Sie soll Grundlage ihres politischen Handelns sein.

Die Verfassung soll Stabilität sichern. Das heißt auch, dass Verfassungen nicht einfach geändert werden können.

In Österreich kann die Verfassung nur geändert werden, wenn mindestens die Hälfte der Abgeordneten zum Nationalrat bei der Abstimmung anwesend ist und sich zwei Drittel von ihnen für die Änderung aussprechen. Außerdem müssen Verfassungsgesetze ganz genau als solche bezeichnet werden. Manche Verfassungsgesetze können nur mit Zustimmung des Bundesrats geändert werden. Bei Änderungen der Grundprinzipien der Bundesverfassung muss sogar das Volk darüber abstimmen.

Grund- und Menschenrechte

Vor allem aber soll eine Verfassung auch die Rechte und Freiheiten jedes Menschen im Staat und gegenüber dem Staat regeln. Sie sichert und garantiert die Menschenrechte und die Grundrechte. Das sind z. B. das Recht auf Leben, das Verbot von Folter und unmenschlicher Strafe oder das Verbot der Sklaverei. Dazu gehört das Grundrecht, dass alle Menschen "vor dem Gesetz gleich sind" und somit von den Einrichtungen des Staates gleich behandelt werden müssen. Auch über ihre Rechte muss sachlich, und nicht einfach willkürlich, entschieden werden. Das Recht auf Privatleben und damit zum Beispiel der Schutz vor willkürlichen Hausdurchsuchungen oder Überwachung ist durch die Verfassung garantiert.

Ebenso Teil der Grund- und Menschenrechte sind das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Information. Auch das Recht, sich in der Öffentlichkeit zu versammeln und zu demonstrieren, sowie das Recht, einen Verein oder eine Partei zu gründen, sind Grundrechte. Es gibt ein Grundrecht auf Familiengründung und die Achtung des Familienlebens. Diese und andere Rechte sollen garantieren, dass Menschen in Freiheit und ohne Angst leben können, dass die Maßnahmen, die in Gesetzen getroffen werden, möglichst fair und gerecht sind, und dass jeder Mensch, dessen Rechte verletzt worden sind, Schutz erhält und seine Rechte durchsetzen kann.

Verfassungsgesetze in Österreich

In den meisten Staaten gibt es nur ein Verfassungsgesetz, das oft auch als Verfassungsurkunde bezeichnet wird. Diese hat, wie die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 oder das deutsche Grundgesetz von 1949, eine besondere Bedeutung in Staat, Politik und Gesellschaft. Wenn schwierige politische Fragen diskutiert werden und wenn wichtige Entscheidungen anstehen, berufen sich Politiker:innen und Bürger:innen auf "ihre Verfassung" und weisen darauf hin, dass diese Rechte sichert und Grenzen des Handelns vorgibt.

In Österreich wird nicht so oft über "unsere Verfassung" gesprochen, und es gibt auch keine "Verfassungsurkunde", auf die man sich beruft. Stattdessen gibt es eine Reihe von Verfassungsgesetzen, die auf den ersten Blick etwas "sperrig" und "technisch" klingen. Dieser Eindruck kann aber leicht täuschen. Ein Überblick über die wichtigsten Verfassungsgesetze zeigt, welche Bedeutung sie haben.

Bundes-Verfassungsgesetz 1920

Alle grundlegenden Fragen des Aufbaus des Staates, der Demokratie und der Gerichte sind im Bundes-Verfassungsgesetz geregelt. Es wird oft als B-VG abgekürzt. Das B-VG wurde 1920 als Verfassung der neuen Republik Österreich beschlossen, nachdem Politiker und Juristen lange darüber beraten und verhandelt hatten. Das B-VG war das Ergebnis schwieriger Verhandlungen, und es wurde von den Parteien daher als größtmöglicher Kompromiss angesehen.

Zu den wichtigsten Persönlichkeiten in den Verhandlungen zählten der erste Staatskanzler der Republik Österreich Karl Renner von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Michael Mayr von der Christlichsozialen Partei und  Hans Kelsen, der bald darauf zu einem der weltweit angesehensten Juristen wurde.

Das B-VG wurde 1929 einer großen Änderung unterzogen. Bis dahin war praktisch alle Macht im Staat beim Parlament konzentriert. Jetzt wurde die Rolle des Bundespräsidenten bzw. der Bundespräsidentin und der Bundesregierung gestärkt. 1933 wurde der Verfassungsgerichtshof ausgeschaltet und damit das B-VG faktisch außer Kraft gesetzt. Als die Republik Österreich 1945 wiedererrichtet wurde, beschloss man keine neue Verfassung. Das B-VG wurde – in der Fassung der Änderungen von 1929 – wieder in Geltung gesetzt. Damit wurde auch sehr bewusst an die demokratische Republik vor 1933 angeknüpft.

Staatsgrundgesetz 1867 und Europäische Menschenrechtskonvention

Der Beschluss einer Verfassung ist nie einfach. Schließlich geht es um Grundlagen für Demokratie und Politik, die nicht permanent infrage gestellt werden sollen. Auch bei der Gründung der Republik Österreich gab es viele Fragen, die zwischen den Parteien äußerst umstritten waren. Ein besonderes Problem stellte die Einigung auf einen Katalog von Menschenrechten in der Bundesverfassung dar. In diesem Punkt vertraten die Parteien sehr verschiedene Ansichten.

Es wurde daher kein neuer Text geschaffen, sondern einfach das Staatsgrundgesetz 1867 übernommen. Dieses Gesetz gab allen Bürger:innen schon in der Monarchie wichtige Rechte. Dazu zählen die Gleichheit vor dem Gesetz, der Schutz der Privatsphäre und die Freiheit der Wissenschaft.

1956 trat Österreich dem Europarat bei. Diese Internationale Organisation hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschenrechte und Demokratie in ganz Europa durchzusetzen und zu sichern. Schon 1950 hatten die Mitglieder des Europarats die  Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet. Sie ist eines der wichtigsten Dokumente zum Schutz der Menschenrechte. Da es in Österreich noch immer keinen neuen Grundrechtskatalog gab, trat Österreich 1958 der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. 1964 wurde die EMRK in Verfassungsrang gehoben und ist damit ein wichtiger Bestandteil des österreichischen Verfassungsrechts.

Das Verbotsgesetz und der Staatsvertrag von Wien

1945, nach dem Ende der NS-Herrschaft in Österreich, wurde die "alte" Bundesverfassung aus der Ersten Republik wieder in Kraft gesetzt. In diesem Jahr wurde aber noch ein weiteres Verfassungsgesetz beschlossen, das sehr deutlich eine wesentliche Grundlage der neuen Zweiten Republik festlegt: das Verbotsgesetz. Damit wurden alle nationalsozialistischen Aktivitäten verboten. Das Gesetz und sein Verfassungsrang bringen klar zum Ausdruck, dass die österreichische Republik und ihre Bürger:innen die nationalsozialistische Ideologie ablehnen und bekämpfen.

Der Staatsvertrag von 1955, mit dem Österreich wieder ein unabhängiger Staat wurde, enthält auch sehr wichtige Bestimmungen, die Teil der Bundesverfassung sind. Darin wird nicht nur die Ablehnung des Nationalsozialismus bekräftigt. Der Staatsvertrag enthält auch ein klares Bekenntnis zur modernen Demokratie, zu den Menschenrechten und den Rechten der Volksgruppen. Das sind wichtige Ergänzungen zum nüchtern-technischen Bundes-Verfassungsgesetz.

Weitere Verfassungsgesetze

In Österreich ist es – im Gegensatz zu vielen anderen Staaten – notwendig, eine große Zahl von Vorhaben als Verfassungsgesetz zu beschließen. Das ist oft mit schwierigen politischen Verhandlungen verbunden, da es für ein Verfassungsgesetz immer eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat braucht.

Dafür gibt es drei Gründe:

  • Erstens war es lange Zeit üblich, etwas als Verfassungsgesetz zu beschließen, damit es nach einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse und einem Regierungswechsel nicht so einfach ist, bestehende Regelungen zu ändern. Ein Beispiel dafür war lange die Schulorganisation.
  • Zweitens sieht das B-VG vor, dass der Nationalrat oder ein Landtag nur das beschließen darf, wozu er "ermächtigt" ist. Man nennt das die "Kompetenzbestimmungen" des B-VG. Seit langem wird über eine Reform dieser Bestimmungen diskutiert. Solange keine Reform gelingt, ist es immer wieder notwendig, einzelne Kompetenzbestimmungen in eigenen Gesetzen zu beschließen.
  • Und drittens gibt es noch eine Reihe von Gesetzen wie z. B. das Parteiengesetz, in denen Teilen des Gesetzes "Verfassungsrang" zukommt, weil sie Angelegenheiten regeln, die Grundlagen von Staat und Demokratie betreffen.

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Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920

Im Stenographischen Protokoll der Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung vom 1. Oktober 1920 können die Debatten nachgelesen werden.