Nach der Befreiung Österreichs 1945 sollte die demokratische Ordnung und die staatliche Souveränität (wieder) hergestellt werden (siehe Fachdossier "Was ist der Staatsvertrag von Wien?"). Die Ereignisse und Dynamiken der Nachkriegsjahre haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Zweite Republik zu jener demokratischen Erfolgsgeschichte wurde, als die sie oft gelobt wird (beispielsweise durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen anlässlich 80 Jahre Wiedererrichtung der Republik). Das Fachdossier gibt einen Überblick über die Rolle von Parteien, demokratischen Institutionen, der Verfassung und zentralen Narrativen im demokratischen Wiederaufbau.
Wie wurde Österreichs demokratische Gesellschaft nach 1945 errichtet?
Welche Rolle spielten politische Parteien im demokratischen Wiederaufbau?
Die Parteienlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde von drei politischen Parteien geprägt: der Sozialistischen (heute Sozialdemokratischen) Partei Österreichs (SPÖ), der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ). Während der Zeit des Nationalsozialismus waren diese (bzw. ihre Vorgängerorganisationen) verboten und teilweise aufgelöst, und ihre Mitglieder wurden politisch verfolgt.
- Die SPÖ wurde am 14. April 1945 (wieder-)gegründet (Müller 1996, S. 206), nachdem ihre Vorgängerorganisation, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP), am ersten Tag des Februaraufstandes 1934 durch das autoritäre Regime unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß verboten worden war (Bauer 2019, S. 35).
- Drei Tage später, am 17. April 1945, fand die Gründung der ÖVP statt (Kriechbaumer 1995, S. 19). Deren Vorgängerorganisation, die Christlichsoziale Partei (CSP), hatte sich – nach langen internen Debatten – am 14. Mai 1934 aufgelöst. Die Parteileitung hatte allen Mitgliedern empfohlen, sich für die Vaterländische Front, die Einheitspartei des autoritären Ständestaats, zu engagieren (Funder 1957).
- Die KPÖ wurde bereits im Mai 1933 durch die Bundesregierung Dollfuß verboten (Garscha 2009, S. 24). Anders als bei SPÖ und ÖVP gab es 1945 keine Neugründung der Partei, da die KPÖ eine organisatorische Kontinuität in der Illegalität erhalten konnte (Kriechbaumer 1995, S. 18). Zwischen 1938 und 1945 befand sich die Leitung der Partei zunächst in der Tschechoslowakei, dann in Frankreich und Belgien sowie anschließend in Moskau (Garscha 2009, S. 33).
Auch an der Gründung der SPÖ und der ÖVP waren viele Personen beteiligt, die bereits vor 1938 bzw. 1934 wichtige Funktionen in den Vorgängerparteien und Vorfeldorganisationen gehabt hatten sowie während der NS-Herrschaft teilweise in Verbindung geblieben waren (Müller 1996, S. 206; Kriechbaumer 1995, S. 15 ff.). Den drei Parteien der unmittelbaren Nachkriegszeit war damit gemeinsam, dass sie eine gewisse organisatorische oder zumindest personelle Kontinuität zu ihren Vorgängerorganisationen aufwiesen (siehe dazu auch Sandner 2022, S. 25). Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, waren sie zentral für das Zustandekommen der ersten Regierung sowie der ersten demokratischen Wahlen nach Kriegsende.
Im Gegensatz zur Etablierung der drei genannten Parteien unmittelbar nach Kriegsende wurde der Verband der Unabhängigen (VdU) – die Vorgängerorganisation der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) – erst im Februar 1949 als Wahlverband gegründet (wodurch die benötigte Genehmigung der Parteigründung durch die Alliierten umgangen wurde) (Reiter 2019, S. 74). Im Jahr 1955 ging der VdU schließlich in der neugegründeten FPÖ auf (ebd., S. 210 ff.; vgl. auch Höbelt 1999, S. 232 ff.).
Wann und wie wurden demokratische Institutionen wiedererrichtet?
Am 26. April 1945 wurde die Provisorische Staatsregierung unter Karl Renner gebildet, die von SPÖ, ÖVP und KPÖ getragen wurde. Da es kein gewähltes Parlament gab, vereinte diese erste Regierung exekutive und legislative Funktionen (siehe Fachdossier "75 Jahre Zweite Republik"). Bereits am Tag nach der Regierungsbildung beschloss sie die österreichische Unabhängigkeitserklärung und damit die Gründung der Zweiten Republik.
Die Provisorische Staatsregierung wurde anfangs nur von der Sowjetunion und in den von ihr besetzten östlichen Bundesländern anerkannt. Die faktische Anerkennung der Regierung durch die westlichen Bundesländer erfolgte im Zuge der Länderkonferenz im September 1945, wobei die Anerkennung durch den Rest der alliierten Mächte erst im Oktober 1945 durch einen Beschluss des Alliierten Rates erfolgte.
Eine der wichtigen Aufgaben der Regierung, die dem Unterstaatsekretär Josef Sommer von der ÖVP aufgetragen wurde, war die Vorbereitung der ersten freien Wahlen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Am 25. November 1945 wurden dann nicht nur der Nationalrat, sondern auch sämtliche Landtage – und somit indirekt auch der Bundesrat – gewählt (siehe Fachdossier "100 Jahre Nationalrat und Bundesrat").
Bei der Nationalratswahl wurde die ÖVP mit 49,8 % der Stimmen und 85 von (damals) 165 Mandaten stärkste Partei, gefolgt von der SPÖ mit 44,6 % der Stimmen und 76 Mandaten. Die KPÖ schnitt bei dieser ersten Wahl am schwächsten ab, sie erreichte nur 5,4 % der Stimmen und damit vier Mandate. Die konstituierende Sitzung des Nationalrates fand am 19. Dezember 1945 statt. In dieser Sitzung nahmen die Abgeordneten unter anderem die oben bereits erwähnte Unabhängigkeitserklärung an.
Bei den Landtagswahlen im November 1945 wurde die SPÖ stärkste Kraft in Wien und Kärnten. In allen anderen Bundesländern konnte die ÖVP die meisten Stimmen auf sich vereinen (Stelzl-Marx 2019, S. 108). Das spiegelte sich auch in der Besetzung des Bundesrates wider, in welchen von der ÖVP 27 und von der SPÖ 23 Mitglieder entsendet wurden. Die erste Sitzung des Bundesrates fand ebenfalls am 19. Dezember 1945 statt.
Auf Grundlage der Mandatsverteilung im Nationalrat bildete sich die Bundesregierung Figl I in welcher die ÖVP neben dem Bundeskanzler Leopold Figl sieben Minister stellte. Die SPÖ erhielt neben dem Amt des Vizekanzlers für Adolf Schärf fünf Ministerposten und nominierte den parteilosen Justizminister, während die KPÖ als kleinste Partei mit nur einem Minister vertreten war. Die Regierung Figl I war somit die erste demokratisch legitimierte Bundesregierung der Zweiten Republik. Die Provisorische Staatsregierung Renner wurde im Gegensatz dazu durch die politischen Parteien und die Zustimmung der Besatzungsmächte getragen.
Welche Schritte zur Errichtung einer wehrhaften Demokratie wurden gesetzt?
Um die Demokratie langfristig abzusichern und dem Rückfall in den Faschismus vorzubeugen, wurden in Österreich verschiedene Maßnahmen zur Entwicklung einer wehrhaften Demokratie beschlossen. Das Konzept der wehrhaften Demokratie bedeutet unter anderem, dass demokratische Handlungsmöglichkeiten (wie beispielweise das Engagement in politischen Parteien) rechtlich eingeschränkt werden können, wenn von ihnen eine Gefahr für die Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit ausgeht (siehe Fachdossier "Was ist eine wehrhafte Demokratie?").
Als erstes wurde das "Bundesverfassungsgesetz über die Behandlung der Nationalsozialisten" im Jahr 1945 von der Provisorischen Staatsregierung Renner beschlossen. Damit wurde die NSDAP verboten sowie jegliche nationalsozialistische Tätigkeiten unter Strafe gestellt. Das Gesetz wurde 1947 umfassend geändert, erweitert und im Zuge dieser Novelle in "Verbotsgesetz 1947" umbenannt (BGBl. Nr. 25/1947). Bis heute werden Fälle von nationalsozialistischer Wiederbetätigung auf Grundlage des Verbotsgesetztes verfolgt (siehe die heute geltende Fassung des Verbotsgesetzes). Laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht gab es im Jahr 2024 insgesamt 1.450 Anzeigen nach dem Verbotsgesetz.
Für die sogenannte Entnazifizierung Österreichs und die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Zeit spielte neben dem Verbotsgesetz auch das "Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz)" eine wichtige Rolle (wie z. B. die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz zeigt).
Zuständig für die Strafverfahren nach dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz waren die sogenannten Volksgerichte, die sich aus drei Laienrichter:innen und zwei Berufsrichtern zusammensetzten. Zwischen 1945 und 1955 fällten diese Volksgerichte 23.477 Urteile, wobei knapp 300 Personen zu Kerkerstrafen und 43 Angeklagte zum Tode verurteilt wurden.
Als eine weitere rechtliche Absicherungsmaßnahme gegen einen autokratischen Rückfall ist die Aufhebung des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) zu nennen. Das KWEG wurde 1917 noch in der Monarchie erlassen, um das Treffen von wirtschaftlichen Notmaßnahmen ohne die Zustimmung des Parlaments zu ermöglichen. Es wurde in der Republik beibehalten. Nach der Ausschaltung des Nationalrates 1933 nutzte es die Regierung Dollfuß, um autoritäre Maßnahmen in "rechtmäßiger" Weise zu setzen. So bildete es auch die Grundlage für die "verfassungsgemäße" Erlassung der autoritären Verfassung 1934 (Staudigl-Ciechowicz 2018, S. 281). Das KWEG wurde 1946 aufgehoben (siehe BGBl. Nr. 46/1946) und die Möglichkeit der erneuten missbräuchlichen Anwendung damit für die Zukunft ausgeschlossen.
Wie wurden eine demokratische Öffentlichkeit und demokratiepolitische Narrative geschaffen?
Um nach 1945 eine starke demokratische Öffentlichkeit herzustellen, setzte man in vielen Staaten (wie beispielsweise auch in Deutschland) auf den Ausbau politischer Bildung (siehe Fachdossier "Welche Bedeutung hat politische Bildung für eine Demokratie?"). In Österreich hingegen brachte man kaum budgetäre Mittel für politische Bildung auf, da man eine "fehlende Notwendigkeit für eine umfassende Politik der demokratischen Resozialisierung" (Filzmaier & Klepp 2017, S. 485) sah. Diese fehlende Notwendigkeit wurde aus der Annahme abgeleitet, "dass Österreich 1938 ausschließlich ein Opfer nationalsozialistischer Aggression war" (ebd.).
Diese sogenannte Opferthese war in den Jahren nach Kriegsende weit verbreitet und existiert teilweise auch heute noch. Der Publizist und ehemalige ÖVP-Bundesrat Herwig Hösele relativiert das Narrativ der Opferthese in einem Sammelband der Parlamentsdirektion und betont, dass Österreich im Jahr 1938 zwar "völkerrechtlich ohne Zweifel Opfer von Hitlers Aggressionspolitik war" (Hösele 2019, S. 226), dass aber gleichzeitig viele Österreicher:innen "bereits zwischen 1933 und 1938 illegale Nazis waren und noch viel mehr Hitler beim Einmarsch und in den Jahren danach zujubelten bzw. die verheerenden Ziele seiner Politik unterstützten." (Ebd.) Zudem zeigt er auf, dass nach Kriegsende über eine halbe Million ehemaliger NSDAP-Mitglieder aus Österreich behördlich registriert wurden.
Neben der Opferthese gibt es weitere zentrale Narrative, die für den demokratiepolitischen Diskurs in der österreichischen Nachkriegszeit und das öffentliche Bewusstsein bestimmend waren. So wurde beispielsweise von Beginn der Zweiten Republik an auf "die Herausbildung einer emotional verankerten nationalen Identität und eines österreichischen Nationalbewusstseins" (Stelzl-Marx 2019, S. 110) gesetzt. In diesem Kontext versuchten Politiker:innen, das österreichische Nationalbewusstsein zu stärken, indem man unter anderem kulturelle Initiativen förderte, sich aktiv von Deutschland abgrenzte und neue Staatssymbole sowie eine neue Bundeshymne für die junge Republik einführte (ebd.).
Zudem setzten die Politiker:innen der Nachkriegszeit stark darauf, das "Narrativ einer erfolgreichen und geglückten Demokratie" (Reiter 2022, S. 51) und einer auf Konsens basierenden Politik öffentlich zu verbreiten. Die Zweite Republik wurde dabei als Antithese zur Ersten Republik dargestellt, von deren Polarisierung und Radikalisierung man sich bewusst abgrenzte (ebd., S. 49). Während es in der Ersten Republik bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen dem sozialdemokratischen und dem christlich-sozialen Lager gab, institutionalisierte sich in der Nachkriegszeit die Sozialpartnerschaft (Tálos 2008), und SPÖ und ÖVP koalierten in den ersten 20 Jahren der Zweiten Republik durchgehend miteinander.
Quellenauswahl
Bauer, Kurt (2019), Der Februaraustand 1934: Fakten und Mythen.
Filzmaier, Peter/Cornelia Klepp (2017), Politische Bildung in Österreich, in: Dirk Lange/Volker Reinhardt (Hrsg.): Konzeptionen, Strategien und Inhaltsfelder Politischer Bildung, S. 485–498.
Funder, Friedrich (1957), Abschied von der Christlichsozialen Partei [Ausschnitt aus dem Buch "Als Österreich den Sturm bestand: Aus der ersten in die Zweite Republik"; abrufbar über Die Furche].
Garscha, Winfried R. (2009), Grundlinien der Politik der KPÖ 1920 bis 1945, in: Manfred Mugrauer (Hrsg.), 90 Jahre KPÖ: Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, S. 17–35.
Höbelt, Lothar (1999), Von der vierten Partei zur dritten Kraft: Die Geschichte des VdU.
Hösele, Herwig (2019), Helden-, Täter- und Opfermythen, in: Parlamentsdirektion (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch: Parlamentarische Demokratie in Österreich, S. 223–252.
Kriechbaumer, Robert (1995), Die Geschichte der ÖVP, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger (Hrsg.), Volkspartei - Anspruch und Realität: Zur Geschichte der ÖVP seit 1945, S. 11–101.
Müller, Wolfgang C. (1996), Die Organisation der SPÖ, 1945–1995, in: Wolfgang Maderthaner/Wolfgang C. Müller (Hrsg.), Die Organisation der Österreichischen Sozialdemokratie 1889–1995, S. 195–356.
Reiter, Margit (2019), Die Ehemaligen: Der Nationalsozialismus und die Anfänge der FPÖ.
Reiter, Margit (2022), Wie wird man Demokrat*in? Narrative zur Demokratie in Österreich nach 1945, in: Christoph Kühberger/Reinhard Heinisch u. a. (Hrsg.), Demokratie nach 1945: Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich, S. 49–64.
Sandner, Günther (2022), Die Erste Republik in der Zweiten Republik. Parteipolitische Kontroversen um die österreichische Demokratie, in: Christoph Kühberger/Reinhard Heinisch u. a. (Hrsg.), Demokratie nach 1945: Perspektiven auf Geschichte, Politik und Recht in Österreich, S. 23–36.
Staudigl-Ciechowicz, Kamila (2018), Das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz 1917: Von seiner Entstehung 1917 bis zu seiner Aufhebung 1946, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (Bd. 1), S. 274–293.
Stelzl-Marx, Barbara (2019), 1945–1955: Der Phönix aus der Asche zwischen West und Ost, in: Parlamentsdirektion (Hrsg.), Umbruch und Aufbruch: Parlamentarische Demokratie in Österreich, S. 106–115.
Tálos, Emmerich (2008), Sozialpartnerschaft: Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik.