Parlamentarismus im Schatten der "Großen Koalition"

Bis 1966 handelten ÖVP und SPÖ in über sechs Regierungszusammenarbeiten Entscheidungen über Gesetzesinitiativen in vorparlamentarischen Gremien aus.

In der bis 1966 währenden Regierungszusammenarbeit handelten ÖVP und SPÖ Entscheidungen über Gesetzesinitiativen in vorparlamentarischen Gremien aus. Gegenseitige Vorbehalte räumten sie mithilfe einer strikten, der jeweiligen Mandatsstärke entsprechenden Aufteilung der Einflusssphären aus. Für parlamentarische Aktivitäten blieb in dieser "Proporzdemokratie" wenig Spielraum.

Starke Regierung, schwaches Parlament

Die Bevölkerung hegte großer Erwartungen an die rasche Wiedererlangung der vollen staatlichen Souveränität und Besserung der Lebensverhältnisse, die die Politik in den ersten Jahren nach dem Krieg nicht erfüllen konnte: 1947 begannen die Verhandlungen um einen Staatsvertrag in der Hoffnung auf einen baldigen Abschluss. Sie zogen sich mit Einsetzen des Kalten Krieges zwischen den Westmächten und der Sowjetunion in die Länge.

Auch der wirtschaftliche Wiederaufbau erwies sich unter der alliierten Besatzung als schwierig und erforderte harte Entscheidungen wie z. B. die Stabilisierung der wiedereingeführten Schillingwährung.

Breite Unterstützung

Die Zusammenarbeit von ÖVP und SPÖ in einer Regierungskoalition fand breite Unterstützung in der Bevölkerung. Bei den Nationalratswahlen vom Oktober 1949 und vom Februar 1953 entfielen jeweils über 80 Prozent der Stimmen auf die beiden Koalitionsparteien.

Den überwiegenden Rest der Stimmen teilten sich die KPÖ und – mit dem weit größeren Anteil – die Wahlpartei der Unabhängigen (WdU), die Vorläuferorganisation der FPÖ. Sie verstand sich als Vertretung der nun wieder zu den Wahlen zugelassenen minderbelasteten ehemaligen Nationalsozialist:innen, Heimatvertriebenen und Kriegsheimkehrer:innen. Sie erzielte bei der erstmaligen Kandidatur 1949 knapp zwölf Prozent der Stimmen und zog mit 16 Mandaten in den Nationalrat ein.

Die Gründung und das Selbstverständnis der als Verband der Unabhängigen (VdU) firmierenden neuen Partei erläutert der Abgeordnete Viktor Reimann rückblickend in einer Rede im Nationalrat am 14. Dezember 1955.

Eine neue Partei schlägt Wellen

Trotz des unerwarteten Erfolgs der neuen Partei blieb die parlamentarische Opposition mandatsmäßig weit unter der nötigen Zweidrittelmehrheit, um die Regierungskoalition zu brechen. Damit hatte sie keinen nennenswerten Einfluss auf das parlamentarische Geschehen. Die "Große Koalition" konnte sich bei der Umsetzung ihrer Vorhaben auf eine komfortable parlamentarische Mehrheit stützen.

Aus historischen Gründen und um das gemeinsame Auftreten gegenüber den Alliierten zu wahren zeigten ÖVP und SPÖ manchmal wenig Vertrauen in den parlamentarischen Prozess. Es gab Bedenken, das Parlament könnte – wie in der Ersten Republik – als Bühne für politische Polarisierung missbraucht werden. Gesetzesvorlagen wurden daher akkordiert, noch bevor sie in parlamentarische Verhandlung kamen.

Der sogenannte Koalitionsausschuss, ein vorparlamentarisches Gremium aus führenden Politiker:innen der beiden Regierungsparteien, traf Vereinbarungen für die Mitglieder der Parlamentsklubs. Der Spielraum für parlamentarische Aktivitäten war damit stark eingeschränkt.

Sozialpartnerschaft als Nebenregierung?

Gesetzesinitiativen in den Bereichen Wirtschaft und Soziales wurden von den Interessenverbänden vorverhandelt. Zu einer Art Nebenregierung entwickelte sich das 1951 auf gesetzlicher Basis eingerichtete Wirtschaftsdirektorium: Es fungierte als wirtschaftliches Koordinierungsinstrument. Der Verfassungsgerichtshof hob es ein Jahr später wegen Verfassungswidrigkeit auf.

Die Entscheidungsmacht in Fragen der Sozial- und Wirtschaftspolitik lag weiterhin bei den Sozialpartnern. Sie institutionalisierten den Interessenausgleich mit der 1957 gegründeten Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen.

Im Herbst 1950 richtete sich eine österreichweite Streikbewegung gegen die sozialpartnerschaftlich ausgehandelte Strategie, den Wiederaufbau mit einer Politik niedriger Löhne zugunsten von Investitionsförderung zu fördern.

Unmut und Lohnstreiks

Anlass war das vierte der insgesamt fünf Lohn-Preis-Abkommen, das den unselbstständig Beschäftigten einen weiteren spürbaren Konsumverzicht abverlangte. Die KPÖ versuchte den "Oktoberstreik" für politische Zwecke zu vereinnahmen, was – nicht zuletzt dank der energischen Mithilfe der Führung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) – nicht gelang.

In der Eröffnungssitzung zur Herbsttagung des Nationalrats am 12. Oktober 1950, die unter großem öffentlichen Interesse stattfand, verurteilten alle Redner:innen mit Ausnahme der kommunistischen Abgeordneten den Versuch, den Streik in eine regierungsfeindliche politische Aktion umzumünzen. Die Abgeordneten der rechten Opposition übten zugleich scharfe Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung.

Innenminister Oskar Helmer (SPÖ) sprach in Anspielung auf das Naheverhältnis der KPÖ zur sowjetischen Besatzungsmacht von "Handlangern der Besatzungsmächte". Lautstarke Zwischenrufe provozierte der kommunistische Abgeordnete Franz Honner, als er die Anschuldigung, einen Putsch geplant zu haben, als Lüge zurückwies.