Die Lage Österreichs stabilisiert sich allmählich, aber das Streben der österreichischen Politik nach uneingeschränkter staatlicher Selbständigkeit ist begleitet von der Gefahr einer Teilung des vierfach besetzten Landes in eine westliche und eine sowjetische Zone.
1955 - Staatsvertrag und Neutralität
Unabhängiges Österreich ohne Mitverantwortung?
Die alliierten Mächte hatten 1943 mit der Moskauer Deklaration die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates vereinbart. Auch wenn sie darin unmissverständlich an die Mitverantwortung für die Teilnahme am Krieg erinnerten und die Berücksichtigung des eigenen Beitrags zur Befreiung unterstrichen, macht sich Österreich eine einseitige Interpretation dieses Dokuments zu eigen, die den Opferstatus in Anspruch nahm.
Mit dem Verweis auf die Okkupation durch Nazideutschland schiebt es jede Mitverantwortung für den Krieg und den Nationalsozialismus von sich und hofft, daraus die Ablehnung von Entschädigungsansprüchen für Kriegsschäden und Opfer nationalsozialistischer Verbrechen ableiten zu können.
Diesen Standpunkt akzeptiert weder die Sowjetunion, die das sogenannte "Deutsche Eigentum", vorwiegend Industriebetriebe und Erdölvorkommen, als Ausgleich für durch den Krieg verursachte Schäden beansprucht, noch die westlichen Alliierten, die v. a. auf die Restitution von entzogenem Vermögen pochen.
Enttäuschte Hoffnungen
Bei den Verhandlungen um einen Staatsvertrag ist eine der schwierigsten Fragen der Anspruch der Sowjetunion auf das "Deutsche Eigentum". Mit einer Ende 1949 erzielten Einigung, die hohe Ablösezahlungen Österreichs bzw. einen Weiterbestand der sowjetischen Wirtschaftsverwaltung in Österreich vorsieht, scheint der Weg frei für einen raschen Abschluss des Staatsvertrags.
Wachsende geopolitische Spannungen zwischen kommunistischem Osten und kapitalistischem Westen stehen dem im Weg: Die einander feindlich gegenüberstehenden Kontrollmächte blockieren den Abschluss. Österreich bleibt vierfach besetztes Territorium und die Gefahr einer Teilung des Landes besteht weiter.
Nach dem Scheitern der Außenministerkonferenz vom Jänner und Februar 1954 in Berlin berichtet Außenminister Leopold Figl dem Parlament über die Verhandlungen. Der Abgeordnete Bruno Pittermann (SPÖ) appelliert an die Besatzungsmächte, mit der Einmischung endlich Schluss zu machen; sein ÖVP-Kollege Alfons Gorbach fordert eine "echte Befreiung".
Neue Strategie: Bündnisfreiheit
Die Verhandlungen kommen 1954 mit einer neuen politischen Option wieder in Gang: Neutralität nach dem Vorbild der Schweiz. In der Diskussion um die Positionierung Österreichs im Ost-West-Machtgefüge mehrfach angeregt, ist die Idee der Neutralität mehr Ausdruck der praktischen Vernunft als ideeller Überzeugung.
Ende des Sommers 1953 berät der Hauptausschuss des Nationalrates über die neue Verhandlungslinie der Bundesregierung. Im Frühjahr 1955 gelingt es, eine Lösung auszuhandeln, die den sowjetischen Ansprüchen genügt und von den Westmächten, die der von Moskau favorisierten Neutralität skeptisch gegenüberstehen, akzeptiert wird.
Für die Sowjetunion zählt die Garantie, dass Österreich nicht dem Militärbündnis der Weststaaten NATO beitrieten; für die westlichen Signatarmächte ist die Sicherheit ausschlaggebend, dass Österreich eine westlich orientierte Demokratie bleiben und die bereits vollzogene wirtschaftliche und politische Westintegration fortsetzen würde.
Vertrag und freiwillige Verpflichtung
Der am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere in Wien feierlich unterzeichnete Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich enthält keinen Hinweis auf die Neutralität Österreichs. Die Regierung hat sich in den Verhandlungen jedoch verpflichtet, "eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Schweiz gehandhabt wird".
Mit einer unmittelbar nach der Zustimmung zum Staatsvertrag am 7. Juni 1955 verabschiedeten Entschließung des Nationalrats betreffend die Erklärung der Neutralität und die Aufforderung an die Regierung, ein entsprechendes Gesetz auszuarbeiten, sind die Voraussetzungen für die Ratifikation des Staatsvertrags durch die alliierten Mächte erfüllt.
"Immerwährende Neutralität"
Der Abgeordnete Alfons Gorbach (ÖVP) erläutert in der Nationalratssitzung die Gründe für die Neutralitätserklärung.
Am 27. Juli tritt der Staatsvertrag in Kraft. Der lang ersehnte, mit 90 Tagen ab Geltung des Staatsvertrags befristete Abzug der Besatzungstruppen beginnt.
Das Bundesverfassungsgesetz, in dem Österreich "aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität" bekundet und sich verpflichtet, keinen militärischen Bündnissen beizutreten, beschließt der Nationalrat am 26. Oktober 1955 (BGBl. 211/1955), dem Tag nach dem Ablauf der Frist für den Truppenabzug.
Stimmen aus dem Nationalrat
Bundeskanzler Julius Raab spricht in der Nationalratssitzung am 26. Oktober von der Neutralität als einer Verpflichtung für die kommenden Generationen. Originaltöne aus der Debatte zum Neutralitätsgesetz sind auch von den Abgeordneten Max Stendebach (FPÖ), Lujo Toncic-Sorinj (ÖVP) und Ernst Koref (SPÖ) erhalten.
1956 erstmals als "Tag der Fahne" gefeiert, wird der Tag des Neutralitätsbeschlusses 1965 zum Nationalfeiertag erklärt. Die Neutralität, im kollektiven Gedächtnis mit dem Ende der zehnjährigen Besetzung verbunden, ist zu einem Bestandteil eines neuen Österreichbewusstseins geworden.
Das Bundeskanzleramt informiert die Bevölkerung 1956 mit einer Audiobotschaft über den Beschluss der Bundesregierung, den 26. Oktober als Tag der Fahne zu begehen. Neun Jahre später, am 26. Oktober 1965, halten Nationalrat und Bundesrat anlässlich des ersten österreichischen Nationalfeiertags eine gemeinsame Festsitzung. Nationalratspräsident Alfred Maleta unterstreicht in seiner Ansprache dessen Bedeutung für eine neue Österreichidentität.
Die Präambel – wegverhandelte Mitschuld
Ursprünglich enthält die Präambel zum Staatsvertrag – wie auch die Moskauer Deklaration von 1943 – einen Hinweis auf die Mitverantwortung Österreichs am Zweiten Weltkrieg. In den Verhandlungen unmittelbar vor Abschluss des Staatsvertrags ist es Außenminister Leopold Figl gelungen, die Alliierten zur Streichung dieses Passus zu bewegen. Dies erleichtert es Österreich, eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit unter Hinweis auf die alleinige Schuld Deutschlands abzuwehren.
Unmittelbar nach dem Krieg betont Österreich die Bedeutung von Antifaschismus und antifaschistischem Widerstand, um bei künftigen Staatsvertragsverhandlungen auf den eigenen Beitrag zur Befreiung vom Nationalsozialismus verweisen zu können. Bald überlagert jedoch ein scharfer, durch den beginnenden Kalten Krieg noch verstärkter Antikommunismus die antinazistische Haltung. Es herrscht breiter Konsens, einen "Strich unter die Vergangenheit" zu ziehen, wie auch Theodor Körner, der sozialdemokratische Kandidat für das Bundespräsidentenamt, in einer Wahlrede im Jänner 1951 fordert.
Unzureichende Aufarbeitung
Gleichzeitig nimmt die Bereitschaft zur Entnazifizierung, von den Alliierten mehrfach mit Nachdruck eingefordert, deutlich ab. Die Parteien beginnen offensiv, um die Stimmen sogenannter "Mitläufer:innen" zu werben.
Mit dem im April 1948 im Nationalrat einstimmig beschlossenen Amnestierungsgesetz werden minderbelastete ehemalige Nationalsozialist:innen vorzeitig von den "Sühnefolgen" entlastet und wieder zu den Wahlen zugelassen. Etwa 500.000 Österreicher:innen profitieren von dieser Regelung, mit der die Entnazifizierung de facto beendet wird.
Die westlichen Alliierten tolerieren die Reintegration der "Mitläufer:innen" und auch die sowjetischen Besatzer zeigen Verständnis. Die alliierten Kontrollmächte legen aber mehrfach ein Veto gegen weitgehende Entlastungsmaßnahmen für ehemalige Nationalsozialist:innen ein, die der österreichische Gesetzgeber vorsah.
Der Nationalrat muss das Nationalsozialistengesetz vor dessen Beschlussfassung 1947 in wesentlichen Teilen abändern. Der Alliierte Rat verweigert die Zustimmung für ein Gesetz betreffend eine Amnestie für belastete Nationalsozialist:innen, das der Nationalrat im Sommer 1952 einstimmig beschlossenen hatte.
Die zögerliche Haltung Österreichs in Fragen der Rückstellung entzogenen Vermögens und der Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus führt zu wiederholten Interventionen insbesondere der westlichen Alliierten. Versuche, die Restitutionsgesetze zu Lasten der Geschädigten abzuschwächen, scheitern an ihrem Einspruch.
Die parlamentarischen Debatten um die insgesamt sieben Gesetzesvorlagen zeigen, dass auch Abgeordnete Regelungen zugunsten der Opfer als von außen aufgezwungene Maßnahmen bewerten. Der Nationalrat verweigert z. B. seine Zustimmung zu einer bereits als Regierungsvorlage ausgearbeiteten Rückstellungsregelung in der Frage der etwa 60.000 entzogenen Mietwohnungen.
Durch den Abschluss des Staatsvertrags scheint die populäre Forderung nach einem "Schlussstrich" unter das Kapitel der NS-Vergangenheit näherzurücken.
Mit der Umsetzung der im Vertrag geschlossenen Vereinbarungen über Rückgabe- und Entschädigungsverpflichtungen (Art. 26 Abs. 1) lässt sich die Regierung bis Anfang der 1960er-Jahre Zeit.