Geschichte des Wahlrechts

Nicht immer durften alle österreichischen Staatsbürgerinnen und -bürger wählen: Ein Blick in die Geschichte der Entwicklung des Wahlrechts in Österreich.

Radikale Anfänge

Die Geschichte des Wahlrechts in Österreich beginnt mit der Revolution im Jahr 1848. Damals forderten Bürger:innen, Studenten und Arbeiter:innen eine Verfassung und eine gewählte Volksvertretung. Zuvor herrschte der Kaiser absolut und ohne jede Beteiligung des Volkes. Die Revolutionäre waren zunächst erfolgreich: Sie erkämpften die indirekte Wahl eines konstituierenden Reichstags. Die Wähler gaben also nicht direkt für Parteien oder Abgeordnete ihre Stimme ab, sondern für Wahlmänner. Diese stimmten im Anschluss für die Abgeordneten zum Reichstag. Frauen, Arbeiter, "Dienstleute" und Personen, die vom Staat abhängig waren, waren von der Wahl ausgeschlossen.

Erstes Herren- und Abgeordnetenhaus

Der Reichstag arbeitete auch ein neues, direktes Wahlrecht aus. Zum Beschluss desselben kam es jedoch nicht mehr, denn Kaiser Franz Joseph ließ die Volksvertretung auflösen und regierte für über ein Jahrzehnt wieder absolut. 1860 erließ der Kaiser das Oktoberdiplom, das einen Reichsrat vorsah, der von den Landtagen beschickt werden sollte. Dieser trat jedoch niemals zusammen und erst 1861 erließ der Kaiser das so genannte Februarpatent, das einen Reichsrat bestehend aus Abgeordneten- und Herrenhaus und damit eine Art Parlament vorsah.

Indirekte Wahlen über Landtage

Bei der Besetzung des Herrenhauses hatte das Volk nichts mitzureden, die Mitglieder waren vom Kaiser bestellt. Das Abgeordnetenhaus wurde von den Landtagen beschickt, die wiederum mittels des Kurienwahlrechts gewählt wurden. Dies bedeutet, dass vier Kurien Vertreter in die Landtage entsandten, die wiederum ihre Vertreter im Reichsrat bestimmten.

Die vier Kurien waren: 

  • Großgrundbesitz;
  • Städte, Märkte, Industrieorte;
  • Handels- und Gewerbekammern;
  • Landgemeinden.

Das Wahlrecht in den Kurien war an das Erreichen eines bestimmten Bildungsgrads oder eine bestimmte direkte Steuerleistung gekoppelt, was als Zensuswahlrecht bezeichnet wird. Interessant ist dabei, dass die Stimmberechtigung nicht an ein Geschlecht gekoppelt war. Erbrachte also eine Frau die nötige direkte Steuerleistung, so konnte sie über einen Vertreter oder einen Bevollmächtigen wählen.

Direkte Wahl der Abgeordneten erst 1873

Erst 1873 wurde weitgehend die direkte Wahl der Abgeordneten, also ohne Umweg über die Landtage, eingeführt. Für alle Kurien bis auf den Großgrundbesitz wurde das Wahlrecht zudem an das männliche Geschlecht gekoppelt. Die Kurie der Landgemeinden wählte ihre Abgeordneten weiterhin indirekt durch Wahlmänner. Der Zensus blieb bestehen und so war der Einfluss der einzelnen Kurien auf das Parlament weiterhin sehr unterschiedlich: Weniger als 5.000 Großgrundbesitzer wählten 85 Abgeordnete, während die knapp 18 Millionen Einwohner der Landbezirke (von denen nur rund eine Million die nötige direkte Steuerleistung für das Stimmrecht erbringen konnte) 131 Abgeordnete wählten.

Die "Fünfguldenmänner"

1882 wurde das Wahlrecht ausgeweitet und der Zensus allgemein auf 5 Gulden direkte Steuerleistung festgesetzt. Zuvor war die für die Wahlberechtigung nötige Steuerleistung unterschiedlich geregelt: In Wien lag diese bei 10, in Graz bei 15, in Prag bei 20 Gulden, in den Landgemeinden durfte jeder wählen, der 10 Gulden Steuerleistung erbrachte.

Eine fünfte Kurie und das allgemeine Wahlrecht für Männer

In dieser Zeit wurden überall in der Monarchie politische Parteien im modernen Sinn gegründet: Sie hatten den Anspruch, große Teile der Bevölkerung zu vertreten. Auf dem Gebiet des heutigen Österreichs waren das die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (zum Jahreswechsel 1888/89) und die Christlichsoziale Partei (1893). Damit wurden die Forderungen nach Wahlrechtsreformen stärker.

1896 weitete man das Wahlrecht weiter aus. Es wurde eine fünfte Kurie der allgemeinen Wählerklasse geschaffen. In dieser hatten alle Männer über 24 Jahren das Wahlrecht, sofern sie ein Jahr lang am selben Ort gewohnt hatten. Die Ungerechtigkeiten des Zensus- und Kuriensystems konnte diese Reform jedoch nicht ausgleichen: Die rund fünf Millionen Wahlberechtigten wählten nur 72 von 425 Reichsratsabgeordneten.

In den folgenden Jahren wurden etliche Vorschläge für Wahlreformen diskutiert. Im Mittelpunkt standen dabei die zentralen Fragen der Demokratie, nämlich die Gleichberechtigung aller Bürger:innen. Diese wurde von vielen als Gefahr für die Stabilität des Staats und das Funktionieren der Regierung gesehen. Es dauerte bis in den Spätherbst 1906, bis sich jene politischen Kräfte durchsetzten, die auf Reformen drängten. Im November 1906 konnten sie die dringliche Behandlung des Gesetzesvorhabens durchsetzen, das als Beck'sche Wahlrechtsreform bekannt werden sollte. Am 1. Dezember 1906 wurde dann der Beschluss im Abgeordnetenhaus gefasst, mit das Privilegiensystem abgeschafft wurde. Ab 1907 sollte ein allgemeines, gleiches, direktes Wahlrecht für Männer gelten. Die wenigen Frauen, die zuvor wählen durften, waren wieder von der Stimmabgabe an den Urnen ausgeschlossen.

Wahlrecht in der Ersten Republik

Es sollte eines verlorenen Weltkrieges und des Zerfalls der Habsburgermonarchie bedürfen, um das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle Staatsbürger:innen durchzusetzen. Die Provisorische Nationalversammlung der neuen Republik beschloss 1918 für die Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung das Wahlrecht für Frauen und Männer gleichermaßen. Gewählt wurde nach dem – im Wesentlichen – noch heute gültigen Listen- und Verhältniswahlrecht. 1920 wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht von Männern und Frauen im neuen Bundes-Verfassungsgesetz verankert.

Von besonderer Bedeutung war auch, dass ab nun die Durchführung von Wahlen von einem Gericht überprüft wurde. In der Monarchie hatten die Mitglieder des Abgeordnetenhauses selbst die Wahlen geprüft. Mit der Wahlprüfung durch den Verfassungsgerichtshof wird seit 1920 eine genaue und sehr detaillierte Prüfung aller bedeutsamen Wahlen in Österreich sichergestellt. Viele Entscheidungen, die der Verfassungsgerichtshof zwischen 1920 und 1929 getroffen hat, prägen das Wahlrecht bis heute.

Diese neu errungene Freiheit in der Mitbestimmung durch das Volk sollte allerdings nicht von langer Dauer sein. Nach der Ausschaltung des Parlaments durch die Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1933 und der Errichtung des autoritären Ständestaats gab es keine bundesweiten Wahlen mehr. 1938 erfolgte die Besetzung Österreichs durch Truppen des nationalsozialistischen Deutschland. Österreich wurde Teil des Führerstaats. Hier fanden am 10. April 1938 – zugleich mit der "Abstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich" die letzten Wahlen zum Reichstag statt. Einzig der nationalsozialistischen Einheitsliste war es erlaubt, an diesen "Wahlen" teilzunehmen.

Die Zweite Republik bringt erneut das Wahlrecht

Erst mit Errichtung der Zweiten Republik 1945 waren die Österreicher:innen wieder dazu berechtigt, ein Parlament und damit eine Volksvertretung zu wählen. Das Wahlrecht knüpfte dabei an das der Ersten Republik an.

Seit Gründung der Zweiten Republik gab es an den Prinzipien des Listen- und Verhältniswahlrechtes keine grundsätzlichen Änderungen. Allerdings wurden seither das aktive Wahlalter schrittweise von zuerst 21 Jahren auf 16 Jahre gesenkt und zudem Elemente des Persönlichkeitswahlrechts eingeführt. So können Bürger:innen heute Vorzugsstimmen vergeben, um in die parteiinternen Listenreihungen einzugreifen, oder Direktmandate in Regionalwahlkreisen errungen werden.