Verfassungs­gerichtshof

Ein einzigartiges Gericht

Der Verfassungsgerichtshof wurde 1919, kurz nach Entstehung der Republik Österreich, gegründet. Er baute auf einem völlig neuen Gedanken auf: Ein besonderes Gericht sollte Streitigkeiten über Fragen des Verständnisses und der Anwendung der Regeln der Verfassung entscheiden. So etwas gab es bis dahin auf der ganzen Welt nicht. Eigentlich war es nur in den USA und in Norwegen Gerichten erlaubt, zu prüfen, ob Gesetze den Vorgaben der Verfassung entsprachen. Überall sonst wurde die Überzeugung vertreten, dass die Entscheidungen eines Königs oder eines Parlaments (in Vertretung des Volks) letztgültig seien.

In Österreich – und gleichzeitig auch in der neuentstandenen Tschechoslowakei – standen die Politiker aber noch unter dem Eindruck vieler Streitigkeiten in der Habsburgermonarchie. Sie wollten vor allem ein Gericht schaffen, das mögliche Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und den Ländern entscheiden konnte. Gleichzeitig sollte verhindert werden, dass die bestehenden Gerichte mehr Macht erlangten. Daher wurde ein besonderes Gericht, der Verfassungsgerichtshof, geschaffen.

Das österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit

In den Beratungen über die Bundesverfassung 1920 kam noch ein Gedanke dazu: Der neue Verfassungsgerichtshof sollte auch die Befugnis erhalten, Gesetze am Maßstab der Verfassung zu prüfen und gegebenenfalls aufzuheben. Dahinter stand der Gedanke, dass Gesetzgebung durch das Parlament nichts anderes sei als die Anwendung der Regeln der Verfassung. Ob diese korrekt erfolgt, soll ein Gericht in konkreten Fällen prüfen können. Es wird damit zum "Hüter der Verfassung". Nach 1945 setzte sich dieser Gedanke weltweit durch: Das "österreichische Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit" wurde zum Vorbild für die neu geschaffenen Verfassungsgerichte vieler Staaten.

Expertise und Unabhängigkeit

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet über besonders wichtige Fragen für den Staat. Daher sollen möglichst viele Meinungen und viel Fachwissen in seine Arbeit einfließen. Alle Mitglieder des Gerichtshofs müssen erfahrene Jurist:innen sein. Verfassungsrichter:innen haben als Rechtsanwälte bzw. Rechtsanwältinnen, Notar:innen oder Richter:innen gearbeitet, stammen aus Wirtschaft oder Verwaltung oder sind Universitätsprofessor:innen.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) besteht aus Präsident:in, Vizepräsident:in, zwölf Mitgliedern und sechs Ersatzmitgliedern. Sie alle werden vom Bundespräsidenten bzw. von der Bundespräsidentin ernannt. Der Nationalrat schlägt ihm/ihr dafür drei Mitglieder und zwei Ersatzmitglieder vor, der Bundesrat drei weitere Mitglieder und ein Ersatzmitglied. Die restlichen Mitglieder werden von der Bundesregierung vorgeschlagen. Parlamentarier:innen können nicht gleichzeitig dem VfGH angehören.

Die Bestellung der Mitglieder des VfGH ist eine politische Entscheidung. Gerade deshalb hat sich in Österreich aber eine sehr gefestigte Tradition entwickelt, dass alle Verfassungsrichter:innen nach ihrem Amtsantritt völlig unabhängig handeln und keine parteipolitischen Äußerungen machen. Das ist auch ein Grund dafür, warum in Österreich nicht bekannt gegeben wird, wie die Mitglieder des VfGH in einem konkreten Fall gestimmt haben.

Hüter der Verfassung

Der Verfassungsgerichtshof prüft, ob Bundes- oder Landesgesetze der Verfassung entsprechen. Weil er ein Gericht ist, darf er das grundsätzlich nur auf Antrag der dazu Berechtigten tun (z. B. Beteiligte in einem Gerichtsverfahren, in dem ein Gesetz angewendet werden soll). Eine Besonderheit ist aber, dass der Verfassungsgerichtshof selbst beschließen kann, eine Gesetzesbestimmung auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen. Er darf das aber nur dann tun, wenn schon eine "Rechtssache anhängig" ist, also wenn er bereits einen Fall zur Entscheidung vorliegen hat, und sich im Zuge der Beratungen neue Fragen stellen. 

Wenn der VfGH feststellt, dass ein Gesetz nicht der Verfassung entspricht, kann er es aufheben. So kontrolliert und korrigiert er die Gesetzgebung des Nationalrats und des Bundesrats sowie der Landtage.

Wer kann Gesetzesprüfungen beantragen?

Es gibt mehrere Arten, wie die Prüfung eines Bundesgesetzes auf seine Verfassungsmäßigkeit eingeleitet werden kann:

  • durch einen Antrag von Gerichten, die das Gesetz anzuwenden hätten. Der VfGH kann in einem Fall, in dem er entscheiden muss, auch selbst eine Gesetzesprüfung einleiten.
  • durch einen Antrag entweder einer Landesregierung, eines Drittels der Nationalratsabgeordneten oder eines Drittels der Bundesratsmitglieder. Dazu ist kein konkreter Anlassfall notwendig. Oppositionsparteien können also ein von der Parlamentsmehrheit beschlossenes Bundesgesetz beim Verfassungsgerichtshof anfechten, wenn sie im Nationalrat (gemeinsam) über mindestens ein Drittel der Mandate verfügen.
  • durch einen Antrag einer Person, die behauptet, durch ein verfassungswidriges Gesetz in ihren Rechten verletzt zu sein, wenn dieses Gesetz ohne Gerichtsurteil oder Bescheid für sie wirksam geworden ist ("Individualantrag").
  • auf Antrag einer Person, die behauptet, als Partei eines in erster Instanz entschiedenen Verfahrens vor einem ordentlichen Gericht wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt zu sein, aus Anlass eines Rechtsmittels gegen die Entscheidung des ordentlichen Gerichts ("Parteiantrag").

Was wird vom Verfassungs­gerichtshof geprüft - und was nicht?

Grundsätzlich wird geprüft, ob Gesetze mit dem Bundesverfassungsrecht übereinstimmen. Gesetze können aber auch aus anderen Gründen verfassungswidrig sein: etwa wegen schwerwiegender Verstöße gegen die Geschäftsordnung des Nationalrats oder des Bundesrats (zum Beispiel fehlerhafte Abstimmung).

Auch Verfassungsgesetze können verfassungswidrig sein

Auch Verfassungsgesetze können als verfassungswidrig aufgehoben werden: nämlich dann, wenn sie gegen eines der leitenden Prinzipien der Bundesverfassung verstoßen.

Was nicht geprüft wird: EU-Recht und fehlende Gesetze

Der Verfassungsgerichtshof prüft Gesetze nicht auf ihre Übereinstimmung mit dem EU-Recht. Er kann durch seine Entscheidungen nur verfassungswidrige Gesetze (bzw. einzelne verfassungswidrige Gesetzesbestimmungen) aufheben.

Er kann aber keine fehlenden Gesetze ersetzen und auch nicht anordnen, dass in bestimmten Bereichen Gesetze zu schaffen sind. Gegen Untätigkeit von Gesetzgeber:innen kann der Verfassungsgerichtshof also nichts tun.

Was passiert, wenn der VfGH ein Gesetz aufhebt?

Wenn ein Gesetz aufgehoben wird, dürfen die Gerichte und Verwaltungsbehörden dieses nicht mehr anwenden. Die Aufhebung tritt meistens mit dem Tag der Kundmachung in Kraft. Der VfGH kann eine Frist setzen, bis wann es eine Neuregelung geben muss.

Der große Spielraum des VfGH

Wenn der VfGH ein Gesetz prüft, trifft er auch wichtige Entscheidungen: Seine Auslegung des Gesetzestextes hat großen Einfluss darauf, wie ein Gesetz in Zukunft verstanden und angewendet wird. Seine Sicht kann manchmal ähnliche Wirkung haben wie eine Neuregelung durch das Parlament. 

Das Verfassungsrecht regelt die Grundsätze des Staates, wobei viele Formulierungen recht offen bleiben. Wenn ein Gesetz auf seine Verfassungsmäßigkeit geprüft wird, gibt es daher in vielen Fällen einen durchaus großen Spielraum für die Beurteilung. Das wird gerade dann deutlich, wenn der VfGH sehr allgemeine Grundsätze anwendet.

Ein Beispiel dafür ist das allgemeine Sachlichkeitsgebot. Es ist aus dem Gleichheitssatz abgeleitet: Gleiches muss gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden, außerdem muss jede Regelung sachlich gerechtfertigt sein. Durch die Anforderungen, die der VfGH mit dem Sachlichkeitsgebot verbindet, kann er den politischen Spielraum von Parlament und Regierung stark beschränken.

Der Gesetzgeber kann vorbauen: Gesetze "in Verfassungsrang"

In der Vergangenheit ist das Parlament einer Aufhebung gesetzlicher Bestimmungen immer wieder zuvorgekommen, indem es ein Gesetz von vornherein in Verfassungsrang gehoben hat.

Gerade dann, wenn große Koalitionen gemeinsam über eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat verfügt haben und sich nicht erst "eine Verfassungsmehrheit suchen" (d. h. die Zustimmung von Oppositionsparteien gewinnen) mussten, wurde diese Vorgangsweise in der Vergangenheit sehr häufig gewählt.

Allerdings ist diese Praxis seit dem "Österreich-Konvent" (2003-2005) stark zurückgegangen. Im Anschluss an den Konvent wurde eine "Verfassungsbereinigung" vorgenommen, und es wurden viele alte Verfassungsbestimmungen aufgehoben. Gleichzeitig hat man sich vorgenommen, in Zukunft sparsamer bei der Beschlussfassung von Verfassungsrecht vorzugehen. Dazu kommt auch, dass seit 2008 keine Bundesregierung mehr über die Unterstützung von zwei Dritteln der Abgeordneten im Nationalrat verfügt hat.

Sonderfall Staatsverträge

Der Verfassungsgerichtshof kann auch Staatsverträge auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung und der österreichischen Rechtsordnung prüfen. Weil Staatsverträge aber internationales Recht sind (und es neben Österreich einen oder mehrere Vertragspartner:innen gibt) kann der Verfassungsgerichtshof sie nicht wie österreichische Gesetze oder Verordnungen aufheben. Wenn er feststellt, dass sie der Verfassung widersprechen, darf der Staatsvertrag aber in Österreich nicht mehr angewandt werden.

Verfassungs­gerichtshof und Parlament

Von den Aufgaben des Verfassungsgerichtshofs betreffen mehrere auch unmittelbar das Parlament. So zum Beispiel Entscheidungen über

  • die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen und Staatsverträgen,  
  • Wahlanfechtungen sowie
  • Anfechtungen von Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksabstimmungen,
  • Anträge auf Mandatsverlust, z. B. von Nationalratsabgeordneten sowie
  • Anklagen gegen Staatsorgane, z. B. Minister:innen.
  • Der VfGH ist auch am Zug, wenn es etwa darum geht, ob ein Akt der Gesetzgebung in die Zuständigkeit des Bundes oder des Landes fällt oder ob der Rechnungshof oder die Volksanwaltschaft als Hilfsorgan des Nationalrats zur Durchführung bestimmter Prüfungen berechtigt ist.

Schiedsrichter in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen

2014 hat der Verfassungsgerichtshof eine neue Aufgabe bekommen: Damals wurde das Recht der Untersuchungsausschüsse im Nationalrat neu geregelt. Im Mittelpunkt stand die Einführung des Minderheitsrechts auf Einsetzung und die genaue Regelung des Untersuchungsverfahrens. Da es in der Vergangenheit viele Streitigkeiten in Untersuchungsausschüssen gegeben hatte, wollte man eine neue Form der Streitschlichtung schaffen. 

Untersuchungsausschuss: Wann der VfGH entscheidet

In der Reform 2014 wurde festgelegt, in welchen Konflikten innerhalb des Untersuchungsausschusses oder zwischen dem Untersuchungsausschuss und der Bundesregierung, Behörden oder anderen, der Verfassungsgerichtshof entscheiden soll. Das sind:

  • Streitigkeiten über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses,
  • Streitigkeiten über den Umfang des grundsätzlichen Beweisbeschlusses,
  • Streitigkeiten über die Ladung einer Auskunftsperson,
  • Meinungsverschiedenheiten über die Vorlage von Informationen,
  • Meinungsverschiedenheiten über die Rücksichtnahme auf ein gleichzeitig anhängiges Strafverfahren.

Außerdem können sich Personen, die der Auffassung sind, dass sie durch ein Verhalten des Untersuchungsausschusses in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt wurden, an den Verfassungsgerichtshof wenden.

Der Verfassungsgerichtshof kann auch noch in Streitigkeiten über die "Klassifizierung" (= Sicherheitseinstufung und Geheimhaltung) von Informationen und Dokumenten im Nationalrat und im Bundesrat angerufen werden.

Allgemeine Informationen zu Untersuchungsausschüssen

Untersuchungsausschüsse als Instrument politischer Kontrolle

Die Anfechtung von Wahlen

Der Verfassungsgerichtshof überprüft auf Antrag die Rechtmäßigkeit bestimmter Wahlen. Angefochten werden können zum Beispiel die Wahlen zum Nationalrat oder die Wahlen der Bundesräte oder der Bundesrätinnen durch die Landtage oder die Wahl des Bundespräsidenten bzw. der Bundespräsidentin.

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet auch über die Anfechtung des Ergebnisses eines Volksbegehrens, einer Volksbefragung oder einer Volksabstimmung.

Wie Abgeordnete ihr Mandat verlieren können

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet auch über den Verlust eines Sitzes im Nationalrat oder im Bundesrat. Dazu muss allerdings der Nationalrat bzw. der Bundesrat - mit Mehrheit - einen Antrag an den VfGH stellen.

Die Gründe für den Verlust des Mandats im Nationalrat:

  • wenn Abgeordnete die Angelobung nicht oder nicht in der vorgeschriebenen Weise leisten,
  • wenn sie dem Nationalrat eine gewisse Zeit hindurch ohne triftigen Grund fernbleiben,
  • wenn sie nicht mehr gewählt werden könnten (aufgrund des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft oder aufgrund gerichtlicher Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder zu einer bedingten Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr) oder
  • wenn sie ihre Stellung als Abgeordnete missbrauchen, um z. B. einem Unternehmen, in dem sie tätig sind, besondere Vorteile zu verschaffen. (Bestimmungen der Unvereinbarkeit: Unvereinbarkeits- und Transparenz-Gesetz)

Wenn der Verfassungsgerichtshof den Antrag für begründet hält, wird dem/der betroffenen Abgeordneten sein/ihr Mandat aberkannt. Der Verlust tritt sofort ein.

Entscheidung über Anklagen gegen Amtsträger:innen

Der Verfassungsgerichtshof entscheidet auch über Anklagen gegen Amtsträger:innen wie den Bundespräsidenten bzw. die Bundespräsidentin, Bundesminister:innen oder Landeshauptleute. Eine solche Anklage kann wegen schuldhafter Rechtsverletzung erfolgen, die diese Personen in ihrer Amtsführung begangen haben.

So kann etwa ein Regierungsmitglied dann auf diese Weise zur Verantwortung gezogen werden, wenn seine Amtsführung den Vorschriften der Bundes­verfassung oder der Gesetze nicht entspricht – nicht aber, wenn es z. B. zu schnell gefahren ist oder einen privat abgeschlossenen Vertrag nicht eingehalten hat.

Mehr Informationen zur Ministeranklage

Weiterführende Informationen

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Wer besetzt die Gerichtshöfe?

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Parliaments and Constitutional Courts

Diese englischsprachige Publikation beschäftigt sich mit den Verfassungen und der Verfassungsgerichtsbarkeit im Verhältnis zu den Parlamenten in mehr als 40 Ländern.

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Verfassungsgerichte: Veröffentlichung abweichender Meinungen

Informationen zu dissenting opinions von Verfassungsrichter:innen und Gründen für die Veröffentlichung solcher abweichender Meinungen.